18 - Kartenhaus

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„Ich kann das wirklich nicht annehmen", wiederhole ich mich zum gefühlten hunderttausendsten Mal, als wir beinahe den ganzen Kuchen gegessen und uns eine Weile unterhalten haben. Es hat mir wirklich gutgetan mit allen zusammenzusitzen, zu reden und Spaß zu haben. Ich konnte einfach mal abschalten und für einen Moment Kuchen mit Freunden essen, als wäre sonst nichts los und als wäre mein einziges Problem noch das letzte Stück abzubekommen.
Als sich Ella erhebt, um Max zu seinem Hotel zu fahren, schüttelt sie den Kopf. „Ich weiß, dass du dich bei Geschenken immer schlecht fühlst, weil du keinem zur Last fallen willst, aber nimm es einfach an und freu dich.
Das wird dein neues Baby." „War es doch schon immer", lächle ich und schließe sie fest in die Arme. „Ich danke euch allen so." Auch Max legt seine Arme fest um mich und als ich mich gerade wieder zu Ella drehe, schaut sie ertappt zu mir, während sie den Jungs eben noch ein Zeichen gegeben hat. Verwirrt sehe ich zu Deniz und Luce, die sich einen Blick zuwerfen und dann beinahe synchron aufstehen. „Wir müssen auch noch dringend weg." Luce war schon immer ein schlechter Lügner, doch Zach starrt so abwesend durch die Gegend, dass er gar nicht mitbekommt, wie unsere Freunde Ausreden suchen, um uns allein zu lassen. Ich schüttle amüsiert den Kopf und verabschiede mich fürs Erste auch von den beiden.
Als sie alle gemeinsam das Café verlassen, zwinkert mir Ella noch einmal zu. Für einen Moment erinnert mich diese Situation an den Abend im Club, als ich wütend gehen wollte, es mir aber nicht nehmen lassen habe Ella nochmal klarzumachen, dass sie endlich auf Deniz zugehen soll. Ich mache mir eine imaginäre Notiz, sie endlich darauf anzusprechen und setze mich wieder schräg neben Zach auf das Sofa, während er sich im Sessel breit macht.
Der dunkelblaue Anzugstoff spannt sich und während ich mich frage, wie man so gut aussehen kann, fühle ich mich aufgrund dessen noch hässlicher, als sowieso schon. Ich zupfe an meinem Pullover rum und streiche mir die krausen Haare aus dem Gesicht.
„Entschuldige, dass ich zu spät gekommen bin", meint er leicht beschämt und ich freue mich insgeheim, dass er nicht zurück nach Hause zu ihr gegangen, sondern hiergeblieben ist. „Hat sich nichts geändert in den fünf Jahren", sage ich mit einem Lächeln, obwohl ich kurz ein unangenehmes Ziehen in der Brust spüre, als ich an die damalige Zeit denke. Damals, als alles noch anders war. Und doch irgendwie gleich.
Er lächelt ebenfalls, aber ich sehe, dass er das gleiche Gefühl in der Brust spürt, wie ich.
„Ich freue mich wirklich darüber, dass du auf die Idee kamst, mir das Café schenken zu wollen. Es klingt total absurd." Er blickt kurz überrascht auf, als hätte er nicht erwartet, dass Ella mir sagen würde, dass die Idee seine war. „Ist doch selbstverständlich", murmelt er dann und ich schmunzle darüber, was er als selbstverständlich sieht.
Ich gönne es Zach und Ella von ganzem Herzen, dass sie so erfolgreich sind und das Geld für solche Aktionen haben, aber ich habe unfassbar schnell ein schlechtes Gewissen, wenn Leute derartige Sachen für mich machen. Ich möchte nicht rüberkommen, als würde ich nur von ihrem Erfolg profitieren wollen. Die beiden würden das niemals von mir denken, doch ich mache mir trotzdem zu oft Gedanken über sowas.
„Was wolltest du mir sagen, bevor Alara uns unterbrochen hat? Was wolltest du über den Tag im Park sagen?" Völlig perplex schnellt mein Blick zu ihm. Tatsächlich habe ich absolut nicht damit gerechnet, dass er die Hälfte meines Satzes, den ich an dem Tag noch rausgebracht habe, überhaupt richtig mitbekommen hat, geschweige denn, dass er sich das bis heute gefragt hat.
„Das", stammle ich, „Das war nichts. Das war nur so gesagt", erkläre ich dann und verdiene damit den Preis als schlechteste Ausredenfinderin aller Zeiten.
Er runzelt die Stirn und Hitze steigt in mir auf, sodass meine Wangen schon glühen. Ich kann es ihm nicht sagen. Ich kann es einfach nicht sagen. Vorhin, als er im Türrahmen stand und wir uns so angesehen haben, da hatte ich wieder kurz das Gefühl meinen Zach zu sehen. Als würde er sich mir, wenn auch extrem langsam, wieder öffnen.
Ich weiß nicht wie er reagiert, wenn ich ihm die Wahrheit über meine Gefühle erzähle. Klar, ich habe es mir nicht ausgesucht, dass ich angefahren werde und fünf Jahre im Koma liege. Ich wollte ihm schließlich sagen wie es wirklich ist, bevor ich auf dem kalten Beton gelandet bin.
Aber ich habe es mir ausgesucht, ihm überhaupt diese Worte an den Kopf zu werfen und mich so seltsam zu verhalten. Auch wenn er mir nicht alles vorwerfen kann – er wird verwirrt sein. Er wird sich vor den Kopf gestoßen fühlen – schon wieder, genau wie damals im Park – und ich habe Angst, dass er sich dann wieder ein Stück von mir distanziert. Ein großes Stück.
„Wir haben nur über die Zeit und dein Buch gesprochen. Das hat mich an diesen Abend erinnert." Er nickt langsam und ich weiß nicht, ob er mir das abkauft. Früher hätte er weiter nachgehakt.
Es herrscht einige Momente Stille und meine Freude über diesen Mittag schwenkt in eine bedrückende Grübelei um.
„Habt ihr hier viel Zeit verbracht?" Er beginnt zu lächeln und meine Mundwinkel ziehen sich automatisch mit nach oben. Ich mag es zu sehen, wenn Menschen sich an etwas Schönes erinnern und dann beginnen wie automatisch zu grinsen. Das ist immer ein ganz besonderes Lächeln. „Unfassbar viel." „Noch mehr als sonst? Das ist gar nicht möglich!" „Noch mehr als sonst! Wenn du wüsstest!", betont er laut und beginnt mit mir zu lachen.
Ich liebe es, wie seine ruhige, bedrückte Stimmung innerhalb von weniger Sekunden zu einem lauten Lachen und strahlenden Augen wird, wenn er an bestimmte Sachen und Augenblicke denkt.
„Wir waren so schon beinahe jeden Tag alle hier, wenn du gearbeitet hast, aber nachdem das passiert ist, war das hier der Ort, der uns am meisten mit dir und den vergangenen Tagen verbunden hat.
Wir saßen gerne stundenlang hier und haben uns angeschwiegen, vor allem in der ersten Zeit danach. Es war schwer und gleichzeitig eine Unterstützung, irgendwie deine Anwesenheit zu spüren.
Nach einigen Wochen haben wir immer mehr begonnen wieder zu lachen, weil wir uns über all die Momente hier unterhalten haben. All die witzigen Momente, bei denen du immer da warst." Er blickt gedankenverloren und mit einem wehmütigen Ausdruck in den Augen in die Leere, bis er zu verstehen scheint, was er gesagt hat. Sofort senkt er den Blick und schüttelt den Kopf. Fragend ziehe ich die Augenbrauen zusammen. Er spricht so ungern über die Vergangenheit, selbst, wenn etwas Schönes ist. Er will mir nicht zeigen, wie er sich gefühlt hat oder was er jetzt fühlt und es ärgert ihn, wenn ihm dann sowas unüberlegt rausrutscht.
„Jedenfalls waren wir oft da", sagt er dann kurz und knapp, völlig ohne Emotionen. Ich lasse die Schultern hängen und mustere Zach, während er auf seine verschränkten Finger starrt. Seine Knöchel treten hervor und die Ader an seiner Schläfe ebenfalls. Er ist angespannt, obwohl gar nichts passiert ist. Ich presse meine Lippen aufeinander und versuche den Drang zu ignorieren, ihn einfach zu umarmen. Ich würde ihn so gerne zu mir ziehen, meine Arme um ihn legen und über seinen Hinterkopf streichen, wie ich es immer gemacht habe, wenn er traurig, angespannt oder nervös war. Allein das hat ihn immer beruhigt und runtergebracht. Ich habe immer gespürt, wie seine Atmung ruhiger wurde und seine Muskeln sich entspannt haben, bevor er mich fest an sich gedrückt hat.
Ich lehne mich vor, mustere weiter sein Gesicht, seinen Hals und seine Haare, während sich unbemerkt ein Lächeln auf meine Lippen schleicht, weil mich die Erinnerungen an derartige Situationen seine Wärme spüren lassen.
Als mein Blick von seinen Haaren runter zu seinen Augen schweift und diese meinen Blick wohl schon länger fixiert haben, fühle ich mich ertappt, vor allem, weil ich immer noch verträumt lächle und er es mir gleichgetan, sich vorgelehnt hat und unsere Gesichter sich nahe sind, wie schon lange nicht mehr. Sofort schlucke ich und tue so, als hätte ich ganz normal gerade erst zu ihm geschaut. Trotzdem unterbreche ich den Blickkontakt nicht, als ich merke, dass er es auch nicht macht. Und dann sehe ich förmlich, wie er vor seine Mauer tritt und sich nicht versteckt. Wie er da sitzt, mir so nah, vor allem auf emotionaler Ebene. Wie unser oberflächliches Gespräch plötzlich eine hundertachtzig Grad Wendung macht. Mein Herz hämmert laut gegen meine Brust, meine Wangen glühen und ein Kribbeln macht sich in meinem Bauch breit. Er blickt mir so tief in die Augen, dass ich das Gefühl habe, er sieht in meine Seele. Doch es stört mich nicht. „Du musst dich nicht vor mir verstecken und du musst nicht verheimlichen, wie du dich gefühlt hast oder dich jetzt fühlst", sage ich leise und meine Hand zuckt, weil ich sie so gerne an seine Wange legen würde, während unsere Blicke aneinander kleben. „Du kannst immer ehrlich mit mir sein", wispere ich und habe nicht unbedingt das erwartet, als er sagt: „Weißt du, unser Leben ist wie ein Kartenhaus, Mila. Wir haben so lange daran gebaut und dann hast du die Dame rausgezogen. Und in nicht mal einem Tag zerfällt der Stapel wieder." Kaum hat er die Worte ausgesprochen wendet er den Blick ab und die Wärme aus seinen Augen verschwindet. Die Ehrlichkeit und mein Zach verschwinden. Stattdessen trifft mich der vorwurfsvolle Ton mit voller Kraft. Ich sitze wie versteinert da und sehe erst zu ihm auf, als er aufgestanden ist und den Knopf seines Jacketts geschlossen hat. Es schmerzt, wie verletzt und kühl er auf mich herabsieht. Es ist genau derselbe Ausdruck, wie damals auf der Bank, als ich mich von ihm getrennt habe. Er fühlt sich so verletzt und am Boden zerstört, doch er will es nicht zeigen, weil er sich gleichzeitig so hintergangen fühlt. „Aber weißt du, was mich Tag für Tag fertig macht? Was mich immer verfolgt? Es ist nicht nur die Tatsache, dass der Stapel dem Erdboden gleichgemacht wurde. Es ist die Frage, wer daran Schuld ist. Wer es so weit gebracht hat oder kommen lassen hat. Du. Ich. Wir. Oder, ob die Zeit bei diesem Spiel einfach nicht auf unserer Seite stand und dich aus dem Spiel genommen hat. Das Einzige was feststeht, ist die Tatsache, dass du die Dame ganz von selbst rausgezogen hast. Was danach war lag nicht in unserer Kraft. Zumindest bis jetzt. Jetzt haben wir den Kartenhaufen vor uns, ohne zu wissen, ob und wie man ihn wieder aufbaut." Dann läuft er an mir vorbei und geht zur Tür hinaus. Ich sehe ihm nicht hinterher, so kraftlos fühle ich mich und die Träne löst sich erst, als die Klingel über der Eingangstür wieder still steht.

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