2. Kapitel

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Abby

„Natürlich", erwidere ich und senke reumütig den Kopf.

Ich muss das jetzt über mich ergehen lassen. Eine andere Möglichkeit habe ich nicht, als mich dieser Peinlichkeit zu stellen.

„Sie haben Ihr Geld doch noch gar nicht erhalten", höre ich Mr. Lancaster sagen.

Ich kann seine Stimmlage nicht deuten. Ist er sauer? War da ein ironischer Unterton zu hören? Erfreut klingt er jedenfalls nicht gerade. Da ich meinen Blick immer noch gesenkt halte, kann ich seinen Gesichtsausdruck nicht sehen.

Ich mache eine abwinkende Handbewegung.

„Ich brauche das Geld nicht", erwidere ich.

„Aber Sie haben doch gerade eine Dienstleistung erbracht. Hierfür müssen Sie natürlich auch bezahlt werden. Ich übernehme das, da mein Cousin, der im Übrigen erst 19 Jahre alt ist, sich nicht mehr wagt, sein Zimmer zu verlassen."

Er klingt definitiv säuerlich, besonders als er betont, dass mein Kunde und sein Cousin erst 19 Jahre alt ist.

Ich schlucke.

„Er ist alt genug", sage ich und wage es endlich wieder aufzublicken.

„Finden Sie?"

„Es tut mir leid. Ich wusste ja nicht, dass das Ihre Wohnung ist. Es ...es ist mir wirklich sehr unangenehm. Ich werde meine Kündigung gleich morgen einreichen."

„Welche Kündigung?", fragt er, während er mich zugleich mit seinem Blick aus diesen unsäglich grünen Augen erdolcht.

„Nachdem was passiert ist, kann ich ja wohl kaum mehr für Sie arbeiten", sage ich jetzt eine Spur schärfer im Ton.

Warum kann er mich nicht einfach gehen lassen und mir das hier ersparen.

Er stößt einen frustrierten Laut aus, während er sich mit der Hand durch sein dunkles Haar fährt. Wieder einmal fällt mir auf, wie attraktiv er ist. Ob er deshalb bereits in meinen Träumen aufgetaucht ist. Ein Glück, dass er nicht auch noch in diese einen Einblick hat.

Mein Körper glüht und mittlerweile habe ich das Gefühl, jetzt tatsächlich bereit zu sein, meinen Tränen, die eindeutig in mir lauern, freie Bahn zu lassen.

„Ich möchte, ehrlich gesagt, nur ungern auf Sie verzichten. Aber wir müssen reden", bemerkt er schließlich und sieht ernsthaft verzweifelt aus.

„Ok", sage ich leise, dabei möchte ich überhaupt nicht reden.

Ich will nur von hier verschwinden und mich für immer und ewig unter meiner Bettdecke verkriechen.

„Betreiben Sie diese Nebentätigkeit schon lange?", reißt mich Mr. Lancaster augenblicklich aus meinen Gedanken.

„Eine Weile", gestehe ich kleinlaut.

„Verdienen Sie bei mir nicht genug?"

„Es geht nicht ums Geld."

„Und um was dann?"

Für einen Moment starren wir uns an.

„Ok, das war jetzt etwas indiskret", sagt Mr. Lancaster.

Ich drücke meine Handtasche und meinen Sommermantel noch etwas fester gegen meinen Oberkörper, als würde ich mich dadurch schützen können.

Und dann passiert etwas, das nicht passieren sollte. Ich fange an zu weinen, einfach so, ganz spontan, obwohl ich sonst nie in der Öffentlichkeit eine Träne vergieße. Ich weiß nicht, warum das gerade jetzt passieren muss. Da war irgendetwas in Mr. Lancasters Blick, das diese eine Schleuse zum Öffnen gebracht hat.

„Abby", vernehme ich unter meinen Schluchzern Mr. Lancasters besorgt klingende Stimme.

Es ist das erste Mal, dass er mich bei meinem Vornamen nennt.

Hektisch wische ich mir mit meinem Handrücken über die Wangen. Wenn diese verdammten Tränen doch nur endlich versiegen würden.

„Komm", sagt er, während ich spüre, wie er eine Hand sacht auf meinen Oberarm legt.

Ich habe die Befürchtung, dass er mich jetzt gar nicht mehr gehen lassen wird. Und dabei wäre es für mich die größte Erlösung, wenn er mir nur endlich sein Ok geben würde, seine Wohnung verlassen zu dürfen. Zwar wird es morgen nicht weniger peinlich sein, mit ihm zu sprechen, aber immerhin werde ich dann etwas gefasster sein als jetzt. Warum kann er denn nicht verstehen, dass ich gerade in diesem Moment nicht mit ihm reden will.

„Ich kann und will dich jetzt so nicht gehen lassen", spricht er jedoch, wie erwartet, meine schlimmste Befürchtung aus.

Ich spüre immer noch seine Berührung an meinem Oberarm nach. Als hätten seine Finger dort prickelnde Spuren hinterlassen.

Ich weiß, dass ich nicht hätte weinen dürfen und ich habe immer noch keinen blassen Schimmer, warum das passiert ist. Glücklicherweise habe ich mich wieder im Griff und die Tränen vollständig von meinen Wangen gewischt. Aber ich schätze meinen Boss als einen Mann ein, bei dem der Beschützerinstinkt außer Rand und Band gerät, wenn eine Frau vor ihm weint. Es gibt Männer, die durch weinende Frauen vor allem verunsichert werden, die die Hilflosigkeit, die sie dabei empfinden, nicht ertragen können und sich daher lieber rarmachen. Doch Colton Lancaster gehört nicht zu diesen Männern, das zumindest habe ich in den letzten anderthalb Jahren, die ich für ihn arbeite, mitbekommen. Er ist keiner, der wegsieht. An sich eine gute Eigenschaft, doch gerade würde ich mir nichts mehr wünschen, als dass er hilflos ist und wegsieht und kein Mann ist, der den Dingen so genau auf den Grund geht. Aber ich habe geweint und er wird das nicht einfach so stehen lassen können.

Ich schlucke und nicke mit gesenktem Kopf.

Vernünftiger ist es natürlich schon, wenn wir uns jetzt aussprechen und ich nicht völlig im Dunklem tappe bei der Frage, was er über all das hier denkt. Ich muss seine Fantasie dringend etwas eingrenzen, ihm erklären, dass ich nur ein wenig tanze und normalerweise nicht zu einem Kunden nach Hause gehe. Wenn das alles nur nicht so schwer wäre.

Ich folge ihm also und als wir sein Wohnzimmer erreicht haben, setze ich mich auf eines der Sofas, auf die er mit der Hand deutet.

„Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten, Ms. Blair?", erkundigt er sich höflich.

Jetzt bin ich also wieder Ms. Blair und nicht mehr Abby. Offensichtlich war er vorhin ziemlich aufgewühlt.

Ich nicke, in der Hoffnung ein paar Minuten für mich zu haben, um mich zu sammeln, während er mir ein Getränk holt.

„Ein stilles Wasser wäre schön", sage ich.

Meine Stimme klingt rau. Vermutlich, weil mein Hals vor Aufregung ganz trocken geworden ist.

Erst als er mir den Rücken zugekehrt hat, bemerke ich den fantastischen Ausblick, den man von hieraus über die Stadt hat.

Doch ich sitze nicht hier, um die Sicht zu bewundern. Als ich mir allerdings Sätze zurechtlegen will, die ich ihm gleich sagen könnte, herrscht ein heilloses Chaos in meinem Kopf.

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