Eurar durchquerte den Palast mit einem frischen Bouquet an Blumen. Die silbrigen Blätter hingen wie Flügel an der Vase herunter und kräuselten sich perfekt am Muster entlang, bis sie ihre Hände kitzelten.
Es war der selbe Strauß, den sie immer im Sommer kaufte. Irgendjemand musste für Lebendigkeit im Palast sorgen — und da der Mondmeister praktikabel veranlagt war, blieb die Dekoration ihre alleinige Entscheidung.Dass er die Räume so reich verzieren lassen hatte, war verwunderlich, doch ihr Herr beharrte stets auf ein gutes äußerliches Auftreten. Dass Reichtum der Weg war, seinen sozialen Wert auszudrücken, hatte Eurar schnell lernen müssen. Da waren die Zodiaks nicht anders als die Menschen.
Der frühe Nachmittag hatte sie zurückgetrieben. Der Palast schimmerte in den Farben der hochstehenden Sonne. Die Strahlen fielen durch die Fenster und leuchteten die bunten Tafeln an, die im perfekten Winkel von der Decke hingen und spielerische Muster über die Einrichtung warfen. In den schattigen Bereichen des Palasts klangen hohe Melodien, die durch den Wind angetrieben wurden.
Eurar konnte sich durch die Geräusche kaum konzentrieren. Sie hing mit den Gedanken dem Gespräch des vorherigen Abends nach – dass der Zodiaks einzige Beschwerde war, dass ihre Pflicht zu ermüdend sei.
Es war eine durchaus menschliche Eigenschaft — immerhin waren sie auch lange Menschen gewesen. Doch nach all den Jahren Weisheit, die auf ihren Schulter lastete, sollten sie festgestellt haben, dass ihr Leben einem höheren Zweck zugewandt war. Daran hatte sich immerhin auch Eurar selbst gewöhnen müssen – es gab niemanden, der sie nach ihrer Meinung fragte.
Sie lebte für die Zodiaks. Und die Zodiaks für die anderen Menschen.
Offensichtlich hatten sie ihren eigenen Willen. Jeder empfand Langeweile — besonders, wenn es keinen Fluchtweg aus dem Alltag gab.
Aber gerade das war es, wofür Eurars Herr kämpfte. Nicht, für seinen eigenen Alltag, sondern für den, der Menschen. Er wollte einen Weg schaffen, dass sie die Stadt verlassen konnten.
Die Zodiaks waren das Werkzeug. Es sorgte ausreichend Spannung zwischen ihnen.
Gerade als Eurar abbog, bemerkte sie, dass ihr Herr auf dem Balkon stand.
Sie huschte durch die geöffneten Glastüren und stellte sich neben die Säule, die die Struktur einrahmte. »Entschuldigung. Ich habe Blumen mitgebracht.«
»Vielen Dank. Ich hab' schon bemerkt, dass du draußen bist.«
Die sommerliche Hitze brannte wie Feuer auf ihrer Haut, doch Eurars Herr ließ sich nicht anmerken, darunter zu leiden. Stattdessen hingen die langen Ärmel seiner Uniform bis zu seinen Fingern herunter und nur die gräulichen Spitzen schwebten in der Luft. Er fixierte nicht einmal die Stadt, sondern das künstliche Himmelszelt, das dahinter aufragte.
Die gewaltigen, geometrischen Formen teilten nicht nur das Firmament sondern auch die Viertel darunter. Es war eine eindeutige Orientierungshilfe in der Stadt — denn anders, als alles andere, veränderten sich die Platten nie.
Eurar konnte sich keinen Himmel vorstellen, der komplett leer war.
»Ich hoffe, es ist nichts in meiner Abwesenheit vorgefallen?«
»Nein. Ich habe eben erst meine Pause begonnen. Ich habe keinen Hunger.« Das Geländer schimmerte wie Sandkörner in der Sonne. Die Uniform des Mondmeisters war daneben nur ein blasser Farbfleck. »Du warst draußen mit zwei anderen Zodiaks. Haben sie sich die Dokumente abgeholt?«
»Ja. Die beiden haben erzählt, dass Sie gestern noch bei ihnen gewesen waren.«
»Du sprichst es so aus, als sei das ein Verbrechen.«
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Wächter der Tränen
Fantasy»Wie sollen wir uns mit unseren Leben zufrieden geben, wenn es selbst die Reichen nicht tun?« Eurar ist die Dienerin eines Zodiak. Ihre Heimatstadt ist abgeschottet vom Rest der Welt. Abseits der Mauern ist kein Leben mehr möglich - und die Menschen...