Brief an einen Fremden .5

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Liebe Fremde, die sich Freunde nennen,

egal wo man hinschaut, überall seid ihr. Ich gehe durch ein Einkaufszentrum in meiner Stadt und kann mir sicher sein, dass ich online mit mindestens der Hälfte von euch befreundet oder verknüpft bin. Ein beängstigendes Gefühl, wenn man bedenkt dass ich eigentlich keinen von euch kenne. Wir sind keine Freunde. Wir sind nicht mal flüchtige Bekannte.Ich rede nicht allzu gern mit Personen, die ich nicht kenne. Und genau das seid ihr! „Freunde" und „Freundesfreunde" nennt ihr euch, doch mit wahrer Freundschaft hat das nichts zu tun.Online habt ihr eine unübersehbare Anzahl an Freunden, die meisten kennt ihr nicht persönlich, die meisten kennen euch nicht. Aber ihr kennt und mögt das selbstdarstellerische Online-Ich eurer Freunde und diese mögen auch euren makellosen Internetauftritt.Freundschaftsanfragen rollen über die Social Networks wie ein Virus: „Neue Freundschaftsanfrage von XYZ, gemeinsame Freunde: 237" Wer wird da schon auf „Ignorieren" drücken? Es beginnt ein regelrechter Wettstreit, die Anzahl der Freunde wird zum Statussymbol. Und so werden es immer mehr Freundesfreunde und immer weniger Online-Freunde, die sich wirklich schonmal getroffen haben, geschweige denn, die wir im echten Leben als Feund bezeichnen würden.Ihr wollt wichtig wirken, dieses Ziel erreicht ihr durch das tägliche Posten von Unmengen an sinnlosen Statusmeldungen wie „Regen, Regen, Regen" oder „Samstag, Sonntag. . . *__________*".
D

as will keiner wissen, jeder sieht, dass es regnet und jeder weiß, was nach Samstag kommt! Außerdem seid ihr gern und oft mit vielen berühmten Menschen befreundet (auch wenn es sich dabei meist um die Fakeprofile von C-Promis, die schon mal im Dschungelcamp waren, handelt). Hauptsache alle merken, dass ihr beliebt seid. Bei wem auch immer.
Doch was unterscheidet euch überhaupt von einem Freund im wahren Leben?

Ein wahrer Freund ist etwas ganz anderes und hat nichts mit der Zwei-Klick-Anfrage-Bestätigung online zu tun. Vertraue ich euch Geheimnisse an? Tröste ich euch, wenn euer Freund oder eure Freundin Schluss gemacht hat? Können wir uns auf Partys auch mal richtig die Kante geben und uns am nächsten Tag eine Ausrede einfallen lassen, wo wir so lange waren? Nein? Dann seid ihr wohl keine Freunde.Ihr gehört alle zu den Leuten, die wir morgens in der Straßenbahn höchstens mit einem kurzen Kopfnicken grüßen, weil uns euer Gesicht irgendwie bekannt vorkommt.Entschuldigung, aber das hier ist mein erster und letzter Brief an euch. Nur weil wir jetzt „verwandt" sind, muss ich noch lange nicht mit euch reden. Also bitte antwortet mir nicht!



Mit besten Grüßen an meine fremden Freunde,
Eure Rebelin

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