Tod dem Winter

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„Du wirst ihn suchen und du wirst ihn finden

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„Du wirst ihn suchen und du wirst ihn finden. Und wenn du ihn gefunden hast, dann wird die Welt in allen Farben erblühen. Denn du bist die Sonne, die die Kälte für immer vertreiben wird."

Lange Zeit hatte Auri die Bedeutung der Worte nicht verstanden, die eine weibliche Stimme, so zart wie Leder und süß wie Honig, in ihren Träumen immer wieder, Nacht für Nacht, an sie gerichtet hatte.
Ewigkeiten hatte sie gebraucht, um den Sinn dahinter zu begreifen. Doch nun wusste sie ihn.

Ihr Schicksal zeichnete sich so hell und klar vor ihrem geistigen Auge ab, wie der mit Frost überzogene Pfad, der sich vor ihren Füßen erstreckte. Wie ein Hase schlug er Kurven, änderte die Richtungen, versuchte Auri zu verwirren, doch es gelang ihm nicht.
Sie wusste, wie sie an ihr Ziel gelangen würde.
Der Weg hatte sich, wie glühend heiße Kohlen in Haut, in ihr Gedächtnis eingebrannt.

Unablässig peitschte ihr der Wind ins Gesicht, hieb unaufhörlich auf ihre, von der Kälte bereits leicht bläulich verfärbten Wangen, ein.
Selbst der Mantel aus weißem Hirschfell, den sie eng um ihren schlanken Körper geschlungen trug, konnte sie nicht vor den bitterlich kalten Temperaturen schützen.
Ja, sie bildete sich sogar ein, spüren zu können, wie selbst das Eis unter ihren dicken Sohlen zitterte.

Der Winter war erbarmungslos. Schon seit einhundert Jahren, vielleicht auch schon länger, fegte er über das Land hinweg und brachte nichts als Chaos und Tod mit sich.
Jedes Leben, das versuchte sich gegen ihn aufzubäumen, versagte am Ende doch in seinem Vorhaben.
Nicht aber Auri. Sie hatte es gelernt, sich inmitten seiner Unbarmherzigkeit  zurechtzufinden und zu überleben.

Der Schnee knirschte unter ihren Schuhen, der Wind heulte, die Kälte klirrte. Zusammen ergaben all diese Klänge eine traurig schöne Melodie. Eine, die Auri die Einsamkeit, die sie schon so lange ganz tief in sich spürte, wieder bewusst werden ließ.
Aber auch das würde sich bald schon ändern. Nur sie hatte die Macht für eine Veränderung zu sorgen und aus dem tristen Weiß, das sie umgab, wohin das Auge reichte, ein Meer aus bunten Farben zu machen.

Ihre Beine trugen sie immer weiter durch die Wüste aus Schnee und Eis. Sie blieb nicht stehen. Sie durfte nicht. Die Zeit spielte gegen sie. Auch wenn sie es geschafft hatte, den eisigen Klauen des todbringenden Winters so lange zu entkommen, spürte sie dennoch, wie die Kälte langsam, aber sicher ihren Griff um ihr junges, warmes, schlagendes Herz verfestigte - bereit es zu zerdrücken, wie jeden Keimling, der es jemals gewagt hatte, durch die Schicht aus Frost, die den gesamten Erdboden bedeckte, zu brechen.
Sollte das immerwährende Pochen in ihrer Brust verebben und Stille einkehren, dann war alles verloren.

Sie lehnte den Oberkörper nach vorne, kämpfte gegen die kräftigen Windböen an, die mit all ihrer Kraft versuchten sie daran zu hindern, das Ende des Pfades zu erreichen.
Auri aber war stärker. Schritt für Schritt näherte sie sich weiter ihrem Ziel - einem Palast aus Eis, der hoch auf dem Gipfel des Berges, weit über den Schnee weinenden Wolken lag.

Als sie die, wie dunkelgraue Watte aussehende Decke durchbrach, strahlte ihr die gläsern wirkende Fassade entgegen.
Auch wenn der Anblick, der sich ihr bot, unbegreiflich atemberaubend war, hielt sie auch jetzt nicht inne. Es blieb keine Zeit, um die Schönheit zu bewundern. Sie musste weiter, durfte nicht stehenbleiben.
Zu groß war die Gefahr, dass ihre Stiefel sonst auf dem eisigen Boden festfroren.

Umso weiter sie sich der Heimat des Winters, der den Namen Nevio trug, näherte, desto kälter wurde es.
Zitternd rieb sie sich die Arme.

Nicht mehr weit. Nur noch ein paar weitere Schritte.

Doch mit jedem der folgte, fühlte sich ihr Körper schwerer und schwerer an. Die Temperaturen wirkten erdrückend, schienen alles zu verlangsamen, auch ihre Bewegungen.
Resignation kam jedoch nicht in Frage. Sie war ihrem Ziel schon so nahe.

Angestrengt atmend schleppte sie sich zu den durchsichtigen Stufen, die zum Tor des Palastes führten.

Weiter. Immer weiter. Nicht anhalten. Nicht stehenbleiben.

Es öffnete sich wie von Geisterhand, so als hätte das Schloss selbst auf ihre Ankunft gewartet. Vielleicht war es ebenso erpicht darauf, das Eis loszuwerden, das seine Mauern bedeckte. Möglicherweise sehnte es sich ebenso nach der Wärme, nach der Sonne, nach dem Leben.

Auri trat ein und wurde von einer noch herrischeren Kälte willkommen geheißen. Ihr Herz begann zu schmerzen. Es gefror Stück für Stück in ihrer Brust.

„Ich bin gekommen, um dich zu befreien!"
Ihre Worte hallten von all den Wänden wieder, sodass sie diese am Ende selbst im Kanon zu hören bekam.

Nur wenige Sekunden verstrichen, dann mischte sich unter den Klang ihrer echoenden Stimme der, von sich nähernden Schritten.

Der Winter war gekommen.

Das Haar fiel ihm in langen, schneefarbenen Wellen über die Schultern, die Augen funkelten blau, wie das Eis, die Lippen waren mit glitzerndem Frost benetzt.
Eine filigrane Krone prangte auf seinem Haupt und ein silbernes Gewand bedeckte seinen beinahe schon zierlich wirkenden Körper.
Die Kälte schien selbst an den Kräften des Winters zu zerren. Er sehnte sich nach Erlösung, nach einem Ende und einem Neubeginn.

Auri erstarrte bei seinem Anblick. Nicht aber wegen seiner Anmut, die den gesamten Saal einnahm, sondern da sie auf der Stelle zu gefrieren begann, als seine Seelenfenster sich auf sie legten.

„Lass mich dir helfen", hauchte sie ihm kaum hörbar entgegen, spürte wie ihre Glieder nach und nach steif wurden. „Lass mich dir das Leben schenken."

Er stieg von seinem Sockel hinab. All seine Bewegungen waren fließend, jeder seiner Schritte von Eleganz geprägt.
Seine Augen aber glänzten nicht so wie der Rest von ihm. Sie waren trüb vor Trauer und Einsamkeit. Er hatte auf sie gewartet, das wusste sie. Er war bereit zu leben.

Eiskristalle begannen sich auf Auris Hals zu bilden, arbeiteten sich weiter nach oben über ihr Kinn, und drohten bereits ihre Lippen zu bedecken.
Bevor sie das taten, erreichte Nevio sie, legte seine frostkalten Finger in ihren Nacken und zog ihren regungslosen Körper enger an sich heran.

„Tu es." Das waren die letzten Worte, die ihre Lippen verließen, ehe die Kälte ihr Herz völlig einnahm und es aufhören ließ zu schlagen.
Sie hatte es geschafft, hatte ihn erreicht. Nun war es an ihm, ihrer beider Schicksal zu erfüllen.

Als er sie küsste, konnte sie spüren, wie der Winter in seinem Herzen langsam erstarb und mit seinem letzten Atemzug erwachte der Frühling zum Leben.
Aus Nevio, dem Schnee, wurde Nevin, der Neubeginn.

Sein eisiges Aussehen schmolz dahin, machte den blassen Tönen seiner Haut Platz für rosige. Sein Gewand nahm die Farbe von einem kräftigen Rot an, das Haar wechselte in ein Moosgrün, das mit Blumen in rosa, gelb und orange bestückt war.
Das Letzte, das sich an ihm änderte, das waren seine Augen. Aus einem kalten Blau wurde warmes Braun und wenn Auri genau hinsah, dann erkannte sie in ihnen nun keine tanzendenSchneeflocken mehr, sondern niederrieselnde Rosenblätter.

So wie er die Veränderung durchlief, tat es auch die Umgebung.
Der Boden des Palastes verflüssigte sich unter ihren Füßen, wurde zu dem festen Stein, aus dem er eigentlich bestand. Aus sämtlichen Ritzen begannen Gräser und Farne zu sprießen, reckten sich dem Licht entgegen, das nun aus Auris Brust herausbrach und ihr auch wieder die Fähigkeit schenkte, zu atmen.

Sie war die Sonne. Mit ihrem Kuss hatte sie dem Winter das Leben genommen und es dem Frühling eingehaucht. So, wie es seit Anbeginn der Zeit vorbestimmt gewesen war.

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