Schneeflocken tanzten hinter dem Glas, wirbelten durcheinander und erzeugten ein ganz wunderbares Bild, das zum Träumen anregte.
Die dürren Arme auf den Sims gestützt, das Kinn auf den ranzigen Stoff ihres abgenutzten Pullovers gebettet, beobachtete Dorothea das Schneegestöber mit einem breiten Lächeln im
Gesicht. Die weißen Sterne wurden in ihrer Fantasie zu grazilen Balletttänzerinnen und in der Ferne bildete sie sich ein die sanften Klänge eines Klaviers zu hören.Nur den Bruchteil einer Sekunde später wurde sie allerdings wieder in die Realität zurückgeworfen, als jemand unsanft an ihren haselnussbraunen Zöpfen zog.
Mit schnell schlagendem Herzen drehte sie sich zu dem anderen Mädchen herum, das sie mit böse funkelnden krähenartigen Augen musterte.
Dorothea schluckte. Als wäre das Waisenhaus an sich nicht bereits die reinste Hölle, musste Amalia ihr das Leben zusätzlich erschweren, indem sie sie ständig aufzog und sich über sie lustig machte.„Seht nur hin! Jetzt fängt sie sicher gleich wieder zum Heulen an!", lachte das boshafte ältere Kind und hielt sich dabei den Bauch. Ihre Freundinnen stimmten darauf ein, zeigten allesamt mit den Fingern auf sie. „Heulsuse, Heulsuse!", riefen sie gemeinsam im
Chor.Nur Dorothea war ganz und gar nicht zum Lachen zu mute. Ihre Augen brannten wegen der sich anbahnenden Tränen und schließlich rannen diese heiß über ihre Wangen und benetzten den kratzigen Pullover, der viel zu viele Löcher besaß.
Sie wischte sich mit dem Ärmel über die rotzverschmierte Nase, bevor sie die kleinen
Hände zu Fäusten ballte.‚Du bist meine kleine Kämpferin', hörte sie die engelsgleiche Stimme ihrer Mutter in Gedanken. ‚Du bist stärker als du es für wahr hältst'.
„Na und? Was ist schon dabei wenn ich weine?", entgegnete sie den den anderen Mädchen schon weniger schluchzend. „Gefühle zu haben ist nicht verkehrt! Und Träume zu haben schon zweimal nicht!"
Amalia rollte mit den Augen, grinste breit und stemmte die hageren Arme in die Hüften. „Dich wird niemals eine Familie adoptieren. Wer will schon ein Kind, das mit dem
Kopf ständig nur in den Wolken hängt?", zischte sie garstig.Ihre Worte trafen das jüngere Kind mitten ins Herz, aber durch angestrengte Bemühung gelang es Dorothea, weitere Tränen zurückzuhalten. Ihr kleiner ausgezehrter Körper bebte vor Wut. Es kostete sie einziges an Beherrschung nicht einfach auf Amalia loszugehen und ihr die hübsche, puppenähnliche Nase zu brechen. Nicht schon wieder. Das würde ihr lediglich ungewollten Ärger einhandeln und Miss Harsley würde sie erneut über Stunden hinweg in die dunkle Besenkammer sperren.
Dorothea hasste die Finsternis. Dann war sie alleine mit ihren Gedanken und all den furchtbar schrecklichen Erinnerungen. Dann holte sie ihre Vergangenheit wieder ein und sie dachte an das Leben, das sie einmal gehabt hatte und nie wieder zurückbekommen würde.
Liebende Eltern, ein warmes Haus, ein eigenes Bett und Kleidung ohne Löcher, die nicht nach toten Ratten stank.
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1000 verschiedene Welten - meine Kurzgeschichten
ContoWillkommen in meiner kleinen Sammlung meiner Kurzgeschichten. ❤️ Für Fantasy Begeisterte und Fans von historischen Romanen!