Kapitel 15

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Wir übernachten in einem Hotel namens Riu Plaza. Es ist eigentlich ganz hübsch, hat eine 4-Sterne-Bewertung und es nicht weit nach Pier 39 und Chinatown. Das einzige Problem besteht darin, dass man mit dem Mitbewohner aus Nevermore und zwei anderen Schülern in einem Zimmer sein soll, um nicht zu viele Zimmer zu belegen. Und ich weiß ja nicht, ob es so eine gute Idee ist, Enid, Yoko, Wednesday und mich in ein Zimmer zu stecken. Enid und Yoko können nicht aufhören zu reden und zu chatten, was sie übrigends beide gleichzeitig können. Und Wednesday, auf die ich verwirrenderweise stehen könnte, versucht ständig, mich zu foltern...

Als wir vier unsere Sachen verstaut haben, geht die Klasse kurz nach Pier 39 und Chinatown, dann dürfen wir selbst entscheiden, wo wir hinwollen. Während Enid und Yoko nach Pier 39 gehen, wandern Wednesday und ich weiter, bis auf die nicht weit entfernte Insel Alcatraz, wo einmal ein Gefängnis war, welches man heute besuchen kann. Man soll mindestens Zweierpäärchen bilden, deshalb folge ich Wednesday einfach.

Wednesdays Perspektive:

In dem alten Bundesgefängnis lassen wir uns mit einer Handvoll anderer Besucher herumführen. Außer y/n und mir sind keine weiteren Nevermoreschüler da.
,,Und in diesen Zellen steckten die Gefangenen, welche es nie geschafft haben, zu entkommen“, sagt der Führer. Danach dürfen die Leute sogar in die Zellen hinein.
Y/n lugt einmal in eine der Zellen herein, aber uns beiden sind dort schon zu viele Menschen drin. Andererseits hängt an diesen Gitterstäben der unvergleichliche Duft nach Verzweiflung und Verwesung. Sicherlich aus alter Zeit. Grund genug, dort hineinzugehen, aber diese fremden Menschen, die das Gefängnis nicht genug würdigen, lassen mich zögern und ich lasse es. Und Y/n scheint von dem Geruch abgeschreckt. Die anderen Leute um uns herum riechen es nicht, aber ich habe meine ganze Kindheit in diesem Duft verbracht und Y/ns Nase ist wegen ihrer animalen Fähigkeit ausgeprägter. Anders als ich scheint sie es aber nicht zu mögen. Ihre Nasenflügel beben und ihr Gesicht ist angewidert.

Dann gehen schließlich alle und folgen dem Führer. Während Y/n hinter der Menge herläuft, fällt mir in einer alten Steinmauer etwas auf. Aus einem Riss schaut ein Papierschnipsel hervor, nur ein wenig, leicht zu übersehen. Doch ich sehe es.
Ich schaue mich um. Niemand achtet auf mich, ich kann in die Zelle gehen.
Als ich den Zettel in der Hand halte, fällt mir der Geruch sofort auf. Unter der Hilflosigkeit der Gefangenschaft hängt der zarte, metallisch-süße Duft von Blut. Er ist schwach, alt, aber unverkennlich. Ich falte das stark vergilbte, duftende Papier auseinander.

,,Was ist das für ein Geruch?“ fragt eine Stimme hinter mir mit leicht angewidertem Ton. Ich drehe mich um. Es dauert nur Sekunden, in denen ich mich entscheide, das Papier mit ihr zusammen anzuschauen. ,,Das ist getrocknetes Blut aus längst vergangener Zeit. Ein Gefangener hat mir seinem eigenen Blut einen Brief geschrieben. Schau.“ Ich reiche ihr den Zettel. Sie atmet tief ein, aber ihr Gesicht bleibt dieses Mal ausdruckslos. ,,Der Brief ist etwa achtzig Jahre alt, zumindest denke ich das... Das Blut kommt von einem Mann, mehr kann ich nicht sagen“, meint sie konzentriert und nachdenklich. Erstaunt schaue ich sie an. Als sie den Blick erwidert, kann sie meine Stimme Frage lesen: Woher weißt du das? Sie antwortet verlegen: ,,Ist so ein Gestaltwandler-Ding.“

Für den Bruchteil einer Sekunde bin ich an etwas gefesselt. Es ist eine kleine Erinnerung. Langsam schließe ich die Augen und als ich sie wieder öffne, stehe ich nicht in einer Zelle auf einer Insel, sondern vor einem alten, schneinbar verlassenen Haus. Und ich schaue nicht in y/ns Augen, sondern in die blauen von Enid. ,,Ist so ein Werwolf-Ding“ hat sie gesagt, als sie mit purer Muskelkraft die verschlossene Tür geöffnet hat. Enid hat mich im letzten Jahr zu sehr fasziniert. Ich habe es attraktiv gefunden, was sie alles mit ihrer Stärke bewerkstelligen konnte. Sie war nervig, ja, aber daran habe ich mich gewöhnt. Und sie war mir wirklich immer eine großartige Freundin, bis zum Ende. Und jetzt sind wir immernoch gute Freunde.

Ich kehre wieder in die Wirklichkeit zurück. Y/ns Augen liegen immernoch auf mir, ihr intensiver Blick durchbohrt mich scheinbar. Es fühlt sich an, als würde sich ein Dorn in mein Herz bohren und mehr Blut schießt plötzlich durch meine Adern. Ich atme tief durch, warum wird mir so heiß? ,,Hör auf damit!“ knurre ich. ,,Was mache ich denn?“ fragt sie plötzlich verwirrt. Darauf antworte ich nicht. Stattdessen lasse ich mir von ihr den Brief zurückgeben und ich lese ihn still.

Wednesday Addams
Die Tochter von Gomez und Morticia.

Du bist der Rabe in der Blutlinie, gebunden an deine Visionen. In Deinem letzten Jahr an der Außenseiterschule magst du gegen einen Feind gesiegt haben, doch deine Visionen werden dir nicht zeigen, was auf dich zukommt. Das Schicksal ist ein launischer Gefährte, junge Seherin. Habe keine Angst vor deiner Zukunft, sie wird glorreich sein.

Mögest du dem richtigen Pfad folgen, deine Bestimmung finden und ein freier Rabe an der Seite deines Gefährten sein.

R.S

Ich bin verwirrt. Ein alter Brief, geschrieben mit Blut, sendet mir nichts weiter als einen Gruß? Oder habe ich etwas übersehen?
Y/n sieht mich fragend an. Ich überreiche ihr den Brief, anstatt zu versuchen, ihr den Inhalt zu erklären. Während sie ihn liest, beginnt sie zu lächeln. ,,Es scheint so, als bekommst du Grüße aus der Vergangenheit. Und sie erzählen von der Zukunft.“ Sie scheint über etwas nachzudenken, aber ich wüsste nicht, worüber. ,,Ich hätte eine Idee, wer R.S ist.“ ,,Und wer?“ frage ich mit einem falschen Desinteresse in der Stimme. Y/n und ich gehen wieder aus dem Gefängnis und in die Stadt, während sie mir erzählt: ,, Robert Stroud war einer der bekanntesten Verbrecher zu seiner Zeit. Wegen Mordes kam er ganze 50 Jahre lang ins Gefängnis und verfasste dann Bücher über Vögel. R.S. könnten seine Initialen sein, es passt auch mit dem Gefängnis. Außerdem hat er von freier Rabe gesprochen. Frei könnte eine Andeutung auf seine Gefangenschaft sein und der Rabe bist natürlich du wegen deiner eher dunklen Visionen-“ Sie hällt inne, als sie realisiert, was sie über meine Visionen weiß. Doch woher und wieso weiß sie es? Ich stelle die Frage laut, mit deutlichen Misstrauen: ,,Woher weißt du davon?“ ,,Nachdem du deine Vision vor mir hattest, habe ich nachgeschaut, was das war, und einiges herausgefunden. Entschuldigung.“ Verlegen senkt sie den Blick. Sie wirkt furchtbar unterwürfig, ich liebe soetwas, das kann ich nicht leugnen. ,,Was soll's. Immerhin konntest du mir etwas nützliches erzählen.“

Im Gleichschritt laufen wir zurück zum Hotel und tun so, als wäre nichts absonderliches passiert.

"I see black" - Wednesday × fem. ReaderWo Geschichten leben. Entdecke jetzt