Wenn ich ertrinke

74 14 32
                                    

TW: Häusliche, s€xuelle, psychische G€walt

Für alle Flickenteppiche und alle Kunstwerke. Für die Bunten, die Schwarzen, die Durchsichtigen.
Für die Ungesehenen.

Jeder, der ein bisschen genauer hinsah, würde es sehen. Ich hatte versucht, den blauen Fleck zu überschminken, hatte blauen Lidschatten auf mein unversehrtes, linkes Augenlid aufgetragen.

Es würde niemandem auffallen, solange ich niemandem auffiel.
Denn noch war ich einfach nur ein Mädchen, das mit ihrem Vater Bus fuhr.
Menschen waren blind.
Niemandem fiel auf, dass er zu nah an mir dran saß, dass seine Hand so weit oben auf meinem Schenkel nichts verloren hatte. Niemandem fiel auf, dass er mich im Griff hatte, dass ich eine Marionette seines Willens war.
Niemandem fiel auf, wie trostlos meine Augen waren. Wie leer. Mein Blick war stumpf, mein Herz schwer.

Ich sah aus, wie ich aussah, und eigentlich würde ich mich gar nicht als hässlich bezeichnen. Aber als verunstaltet.
Denn manchmal fühlte ich mich durch die Verfärbungen wie ein Flickenteppich, an anderen, guten Tagen wie ein Kunstwerk.
Lila, grünlich, blau.
Ich war bunt.
Gezeichnet und bemalt von seinem Hass auf mich, von seinen Schuldzuweisungen, von seiner Enttäuschung.

Ich war schwarz.
Schon lange ertrunken im Wasser meines Leidens. Stille Wasser waren tief. Stille Menschen waren meist lebendige Leichen.

Ich war durchsichtig.
Man sah mich, doch gleichzeitig war ich unsichtbar.
Meine Verfärbungen verschmolzen mit Wänden, Schränken, Schultaschen. Im Sportunterricht stand ich zitternd da, hoffte, dass jemand all die Hämatome auf meiner Haut sehen und mich retten würde, doch gleichzeitig war das meine größte Angst.
Die Angst vor dem Danach. Die Ungewissheit.

Aber es war vergeudete Zeit, sich darüber Gedanken zu machen.
Keine meiner Mitschülerinnen hatte je einen der unzähligen blauen Flecken bemerkt.
Und selbst wenn sie es gesehen haben sollten - sie schwiegen es tot.
Ich war eine Aussätzige, gehörte nicht dazu. Warum sollte man sich also Gedanken machen um Menschen, mit denen man nichts zu tun hatte? Die einem scheißegal waren?

Bitterkeit machte sich in mir breit.
Ich war allein. Ich war einsam. Ich konnte mich nicht wehren, ohne es schlimmer zu machen. Und ich wollte nicht sterben, wusste aber, würde ich mit der Sprache herausrücken, würde er mich umbringen. Also hielt ich dicht, schwieg und hielt aus.
Manchmal musste man sich seinem Schicksal beugen, auch wenn das keineswegs leicht war. Manchmal war stummes Aushalten die einzige Möglichkeit, zu überleben.

Allerdings verkrampfte mein Herz beim Anblick der alten Frau, die verzweifelt versuchte, den Bus zu betreten.
Ein Rad ihres Rollators klemmte fest, eine Plastiktüte mit Orangen riss und die Früchte verteilten sich im Gang des Busses.
Ich fragte mich, warum der Busfahrer nichts von alldem mitbekam. Interessierte es ihn denn nicht, ob seine Fahrgäste einsteigen konnten? Und wo waren die anderen Passagiere? Bemerkte nur ich etwas, verspürte nur ich den Drang, ihr zu helfen?

Vaters Blick war eisig. Das Graublau seiner Iriden sprach zu mir. Es war ein klares Nein. Ein "Halte dich zurück."
Aber ich wussste nicht, wie.
Die alte Frau tat mir leid. Stumme Hilfeschreie gingen von ihr aus, sie kamen bei mir an und stießen messerscharf in meinen Brustkorb. Ich kannte das Gefühl, ungesehen zu bleiben. Nur zu gerne wollte ich die Dame davor bewahren.

Doch dafür müsste ich an Vater vorbei. Dafür müsste er seine Pranke von meinem Oberschenkel nehmen. Aber er packte nur noch fester zu, als hätte er meine Gedanken gelesen, als wüsste er, dass ich aufspringen wollte, um die herumkullernden Orangen einzusammeln und den Rollator der Frau in den Bus zu befördern.

Er warnte mich erneut, und auch, wenn ich abgehärtet war, musste ich zugeben, dass es begann, wehzutun.
Seine Nägel bohrten sich in mein Fleisch, mein Bein begann zu brennen. Ich spürte, wie er meine Haut mit Kratzern verunstaltete.
Dann hörte ich kurz das Geräusch aufreißender Nähte- und er hat meine Strumpfhose zerissen.
Seine Fingerkuppen trafen direkt auf meine rotleuchtende Haut. Er drückte noch fester zu. Bald würde er kleine Hautfetzen unter seinen Nägeln haben, ich würde beginnen zu bluten.

Es erschrak mich irgendwie, dass ich so genau wusste, was als nächstes kommen würde. Wann waren seine Attacken so voraussehbar geworden?

Vor ein paar Jahren war alles noch gut, daran erinnerte ich mich, und diese Erinnerung tat weh und trieb mir Tränen in die Augen. Ich hatte in einem Paradies gelebt. Ich war im Schlaraffenland gewesen und hatte es nicht schätzen können.
Könnte ich die Zeit zurückdrehen, würde ich diese Liebe, die ich bekam, in mich aufsaugen und nicht über Mums Fürsorglichkeit lachen. Ich würde nicht mehr nachts drei Uhr aus dem Haus schleichen, um auf Partys der Beliebten zu gehen.
Ich würde mich nicht daran erfreuen, dass das Liebesleben meiner Eltern plötzlich gut zu laufen begann. Denn es hatte mir geholfen, davonzukommen, als sie miteinander schliefen.
Ich würde mich wappnen für die Schmerzen, die auf mich zu kommen.
Es wäre nicht aus heiterem Himmel passiert, meine Welt wäre nicht von jetzt auf gleich in sich zusammengebrochen.
Ich wäre nicht erschlagen worden, überrollt von meinem Leben, ertrunken in Vaters Hass.

Bis heute fragte ich mich, was ich falsch gemacht hatte. Wo war ich falsch abgebogen?

Denn eines Samstags kam ich in die Küche und fand zwei Personen vor, die ich noch nie gesehen hatte.
Mums Haar war immer schon blond gewesen, es hatte geglänzt und war voluminös - ich liebte es. Doch an diesem Morgen hing es schlaff herunter, ihre Haut war voller Falten und wirkte regelrecht grau.
Sie sah aus wie tot.
Es hatte mich furchtbar erschreckt, sie so zu sehen. Und Dad, mein humorvoller Dad bäumte sich vor mir auf, und mit einem Mal wurde aus Dad ein Vater, der kein Vater war. Er wurde mein Albtraum.

Mum begann zu schweigen, Vater begann zu toben, ich begann zu ertrinken.
So fühlt es sich an, so, als bekäme ich keine Luft, als wäre meine Lunge zu klein, als würde er mich würgen.
Er hatte es einmal getan, doch dieses Gefühl konnte ich nicht abschütteln.
Es begleitete mich, tagein, tagaus. Und ich fragte mich, was geschehen war. Meine Eltern liebten sich jedenfalls nicht mehr, und mich erst recht nicht und ich wurde den Gedanken nicht los, dass es meine Schuld war.

Ich zuckte zusammen.
Meine Zähne schabten am Fleisch meiner Wange und rissen mich aus meinen Überlegungen.
Ich versuchte, den Schmerz auszutauschen. Das Schlimme hieran war, dass dieser Schmerz langsam war, und bleibend.
Er war nicht wie eine Ohrfeige- ein kurzer Höhepunkt, eine brennende Nachwirkung, die bald nachließ. Er blieb gleichmäßig, mal wurde er etwas intensiver, dann lockerte Vater kurz seine Pranke, ehe er mich hart zurück in den Sitz drückte.
Der metallische Geschmack von Blut lag nach einer Weile auf meiner Zunge. Ich hasste es. Doch ich wusste mir nicht anders zu helfen. Ich konnte auch der Frau nicht helfen, deren Rollator sich verhakt hatte.

Feuerflammen ergriffen mich.
Flammen der Wut, der Verzweiflung, des Schmerzes.
Ich seufzte.
Er drückte noch fester zu, schob seine Finger in meinem Bein vor und zurück, verteilte Blut auf meiner Haut.

Er grinste überlegen. Ihm war klar, dass ich wusste, dass mir keine Chance bleiben würde. Schwer atmend gab ich auf. Fügte mich, wie sooft, meinem Schicksal, ergab mich meinem Leiden und ließ die Frau im Stich.
Mein Herz verkrampfte, doch ich konnte nichts tun. Wie sollte ich auch anderen helfen können, wenn ich nicht mal mir selbst helfen konnte?
Ein Ertrinkender kann einen Ertrinkenden nunmal nicht retten.

drowning - ein kurzgeschichten-sammelsuriumWo Geschichten leben. Entdecke jetzt