Achterbahnfahrt

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Für all die, die im Karussel ihres Lebens feststecken.
Und für alle Achterbahnfahrer.

Es raubt mir den Atem. Ich kriege keine Luft. Mein Blut zirkuliert nicht mehr, da sind nur meine Gedanken und ich und ich und meine Gedanken.
Ich fahre Karussel, die Angst drückt mich fest in den Sitz. Übelkeit lässt meinen Magen rumoren.
Die Achterbahnfahrt kann beginnen.
Und ich bin allein mit mir selbst.

Die Angst, dass alles wird, wie es war- sie klemmt mich ein, nagelt mich fest auf diesem Karussel.
Runde um Runde beobachte ich, wie mein Leben mir um die Ohren fliegt. All die Geschichten, die ich hörte, all die Träume, die ich träumte, all das Leid, das ich fühlte - alles wird zu einem zähen Brei aus Farben und Geräuschen und tauben Emotionen.
Meine Beine zittern, die Angst lässt mich nicht los.

Dieses Mal bin ich keine Hülle. Ich bin voll und ganz anwesend, mit tiefen Gefühlen und allem drum und dran.
Und ich sehe Verzweiflung, während das Karussel sich zu drehen beginnt, ich sehe Einsamkeit und Todesängste.
Ich sehe Fragezeichen, Antworten, die sich versteckt halten.
Der Sturm des Ungewissen peitscht mir ins Gesicht, zwanzigtausend Stromschläge überall, ich bin elektrisiert. Tränen brennen in meinen Augen.
Auf und ab rast die Achterbahn. Ich habe Angst. Ich habe Angst, dass ich diesmal nicht heil ankomme. Angst, dass sich die Furcht vor dem Tod bewahrheitet - was, wenn es diesmal schlimmer ist, als die Male davor? Was, wenn diese Achterbahnfahrt meine Letzte sein wird?

Ein heiserer Schrei drückt sich meine Kehle hinauf.
Es fühlt sich an, als wollte er mich aufschlitzen, denn ich spüre, wie er sich langsam hocharbeitet, spüre den metallischen Geschmack von Blut auf meiner Zunge und in meinem verkrampften Brustkorb.
Der Schrei möchte raus, er möchte sich in der Atmosphäre verteilen, denn er arbeitet für und gegen mich zugleich.
Für mich, weil wenn ich laut werde, wenn ich wirklich schreie - dann werden ihre Blicke, so schmerzerfüllt und voller verzerrter Wahrnehmungen, endlich auf mir landen. Dann werde ich gesehen werden.
Aber ich will das nicht! Ich will einfach die Augen schließen und diese beknackte Achterbahnfahrt hinter mich bringen!
Ich kenne meinen Job. Es ist besser, zu funktionieren, als zu boykottieren.
Die verzweifelten Erwartungen werden nur noch stärker, die Vorwürfe noch schlimmer.

Wie zum Beweis setzt ein Hagelschauer ein. Ich bin ihm willenlos ausgesetzt.
Die Körner prasseln auf meine Haut, kalt und schmerzhaft pieksen sie mich. Tausende Nadelspitzen, die meinen Körper drangsalieren.
Warnungen, ganz klare Warnungen.
Doch, doch. Manchmal ist es am besten, zu schweigen. Manchmal ist Reden Gold und Schweigen sind Diamanten. Manchmal ist es besser, an seinen eigenen Hilfeschreien zu ersticken, als jemand anderen mit ihnen zu belasten.

Es hört auf zu hageln.
Vereinzelte Sonnenstrahlen streichen über die maroden Stangen des Karussels.
Es ist meine persönliche Achterbahn.
Ich frage mich, wie lange sie noch hält.
Sie hat mit den Jahren an Stabilität verloren, und ich sehe es kommen, bald zerfällt sie und alles bricht über mir herein, vergräbt mich und all die ungesagten Worte unter sich.

Diese Achterbahn raubt mir die Luft zum Atmen, denn sie fährt zu schnell, zu gefährlich, sie startet zu unerwartet.
Mein Leben stottert.
Als vergesse es, anzufahren. Und dann rast es los und fährt mich über den Haufen. Es überrollt mich mit Balast, den ich nicht tragen möchte und dem ich dennoch nicht davonkomme.

Ich habe Angst. Doch wenn ich die Augen öffne, sehe ich noch viel mehr Furcht um mich herum.
Meine Gefühle kommen mir mit einem Mal lächerlich vor. Erbärmlich.
Denn ich sitze - unfähig, mich zu rühren - im Sitz meines Karussels, beobachte, wie alles den Bach hinunter geht und tue so, als würde es mir nichts ausmachen.
Außerhalb meines Karussels spielt sich das Leben ab. Dort ist die Verzweiflung, dort ist die Todesangst.
Und hier in mir? Hier bleibt nur das, was der Wind zu mir trägt. Bruchteile der Wahrheit. Ich lausche dem Flüstern der Linde, ich spitze die Ohren, um das Krächzen der Krähe zu verstehen.
Versuche, die wahre Wirklichkeit zu finden und die verschwundenen Antworten zu entdecken.

Wind kommt auf.
Erinnert mich daran, dass ich ihm hilflos ausgeliefert bin.
Heimtückisch streichelt er meine Wange, säuselt: ,,Alles wird gut."
Doch das wird es nicht.
Am Ende des Tages wird es das nicht.

Denn ich bin gefangen in einem brüchigen Gestell, nicht fähig, mich zu lösen.
Die Angst hält mich fest.
Die Gedanken hypnotisieren mich.
Nächtliche Dunkelheit schlängelt sich um mich, bis sie eine Schlinge um meinen Hals gelegt hat.
Ich bin allem ausgeliefert. Und schweige. Versuche, am Leben zu bleiben. Sonst habe ich keine Konstante, nur diesen einen Plan. Ich habe nichts.
Fahre nur Achterbahn und warte darauf, aus dem Sitz geschleudert zu werden.

Doch irgendwann wirst du taub. Irgendwann fühlst du den Wahnsinn nicht mehr, die Regentropfen bohren sich nicht mehr wie Dolche in deine Haut, das Donnergrollen lässt dein Trommelfell in Frieden und in deinem Gehirn herrscht Flaute. Irgendwann bist du an einem Punkt, wo du dich zurücklehnst und deine Hände zu zwei Fäusten ballst, bereit, zuzuschlagen, wenn deine Fahrt nicht nach Plan läuft. Irgendwann funktionierst du, ob du willst oder nicht.

Du lässt dich von unterdrückten Schreien zerstückeln, du lässt dich von deinem Leben erschlagen, du lässt dich anschreien und dir die Schuld für alles geben - und du tust das alles freiwillig. Weil du die Verzweiflung, die Angst und die vielen Fragen nicht mehr sehen möchtest, wenn du die Augen doch kurz öffnest. Weil du beschützen willst. Alles. Nur nicht dich selbst.

Ich atme tief ein, tief aus. Der Sauerstoff flattert durch meine Lunge.
Meine Finger verkrampfen sich um die Armlehne des Sitzes.
Ich atme. Ich halte aus. Ich schweige.

Als es plötzlich fürchterlich zu quietschen beginnt, schrecke ich hoch. Panik macht sich in mir breit, mein Herzschlag beschleunigt sich. Bald hämmern meine Herzkammern gegen meinen Brustkorb, als wollten sie mir die Knochen brechen.
Die Achterbahn beschleunigt - dann hält sie an. Aus dem Nichts, ohne Vorwarnung.

Ich werde nach vorn geschleudert, der Anschnallgurt schneidet mein Fleisch auf und ich beiße mir auf die Lippe, um einen Fluch zu unterdrücken.

Okay. Auch dieser Moment ist mir bekannt, ich habe ihn schon mehrfach durchgestanden. Jetzt muss ich also lächeln. Nachdem ich solange in absoluter Anspannung verharrte, ist es nun an der Zeit, zu lächeln und glücklich zu sein.
Ich weiß, warum die Achterbahn so abrupt anhielt, ich weiß nur nicht, für wie lange sie mich verschont.
Doch das zählt jetzt nicht. Keine meiner Strapazen zählen.
Gelten tut nur eins: Entwarnung.
Mom hat nicht zum vierten Mal Krebs.

drowning - ein kurzgeschichten-sammelsuriumWo Geschichten leben. Entdecke jetzt