Schmetterlingsflügel II

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Zweiter Teil des vorherigen Oneshots.
Zeitsprung: 10 Jahre später.

»Happy Birthday to me«, denke ich bitter. Da wird man einmal 25 Jahre alt, und keiner der vermeintlichen Freunde zuckt sich. Ich schlucke die Enttäuschung herunter. Schließlich habe ich immer noch heute Geburtstag, da wird kein Trübsal geblasen, so einfach ist das!

Missmutig straffe ich meine Schultern, hebe das Kinn. Aber das ist, als würde ich mich selbst belügen. Ich bin nicht selbstbewusst, also brauche ich gar nicht erst so tun, als wäre ich es.

Es reicht, wenn ich dazu stehen kann, dass ich ein Nichts bin; ein kleines, unbeliebtes Nichts.

Die U-Bahn quillt mal wieder über, Menschenmassen strömen an den Haltestellen durch die Türen, drängen sich dicht an dicht; warme, verschwitzte Körper, die aneinander kleben.

Ein alltäglicher Schweißaustausch, der mich kotzen lassen könnte, wäre ich es nicht schon so gewöhnt.

Die einsteigenden Leute drängen mich immer weiter nach hinten, bis ich mich mit dem Rücken zur schmuddeligen Wand wiederfinde. Ich seufze. Wie sehr ich diesen ganzen Scheiß hier doch liebe.

Ich beginne, mich unwohl zu fühlen. Meine AirPods haben einen leeren Akku, sodass ich ohne Musik die schweren Atemzüge der anderen Fahrgäste ertragen muss. Ich könnte schreien.

Und dennoch... irgendwie ist es, als wäre da noch irgendetwas, was mein Unwohlsein nur noch verstärkt. An meinem Outfit kann es nicht liegen, das dunkelgrüne Top und der dunkle, lange Rock sind eins meiner Outfits, in denen ich mich sicher und geborgen fühle – was bestimmt auch daran liegt, dass es nicht freizügig ist.

Aber da ist irgendwas, das spüre ich. Ich spüre die Gänsehaut auf meinen Armen, ich spüre das sich bereitmachende Adrenalin in meinen Blutbahnen. Fühle mich wie zurückversetzt ins Treppenhaus meiner Großmutter. Es ist wie damals, als ich auf der Lauer war, eine Heidenangst hatte, dass ihr widerwärtiger Nachbar mich eines Tages noch vergewaltigen würde.

Allerdings ist hier nichts und niemand, der für diesen Gefühlssturm sorgen könnte. Ich lasse meinen Blick unruhig über die Menschen um mich herum schweifen – aber da ist nichts.

Kopfschüttelnd sinke ich wieder gegen die Wand. Ich sage ja, dass ich ein dämlicher Schisser bin, ich kann es nicht oft genug sagen. Und letzten Endes weiß ich auch, dass es stimmt.

Ganz gleich, was alle behaupten, von wegen starke Persönlichkeit und so – ich bin und bleibe eine Memme, eine Last und ein erbärmlicher Haufen, der ein Mensch hätte werden sollen.

Ich bin ein Schmetterling ohne Flügel.

Ich bin ein Schmetterling, welcher aus der Luft gefallen ist und verlernt hat, zu fliegen.

Ich bin ein Schmetterling, der seinen Zweifeln nicht gewachsen war und der seine Träume unter einer dicken Schicht Schutt vergrub. Der zu viel nachdachte und viel zu wenig tat.

Ich bin ein Schmetterling, der nur darauf wartet, von einer Krähe gefressen zu werden.

Ich warte darauf, zu verschwinden.

Weil ein Leben in Angst sich anfühlt, als stünde man gefesselt am Spielrand des Lebens. Man sieht, wie sich alle durchschlagen, gewinnen, verlieren, fallen, wieder aufstehen.
Man sieht, wie sie kämpfen.
Und man weiß, dass man es selbst nicht kann, weil man eine teilnahmslose Randfigur ist, welche es nicht schafft, auf dem Spielfeld stehen zu bleiben.

Ein erregtes Stöhnen sorgt dafür, dass ich meine Lider wieder aufreiße. Müdigkeit und Erschöpfung waren davor über mir hereingebrochen, aber damit komme ich klar. Besser zumindest als mit diesem Chaos, was das Geräusch in mir verursacht.

drowning - ein kurzgeschichten-sammelsuriumWo Geschichten leben. Entdecke jetzt