Schmetterlingsflügel I

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TW: s€xuelle B€lästigung

Für die mit den gebrochenen Flügeln.
Und für mein damaliges Ich, was diese Worte gebraucht hätte.

Meine Hände zittern, als ich den Briefkastenschlüssel ins Schloss stecken will. Meine Beine scheinen aus Wackelpudding zu bestehen, mein Herz trommelt unaufhörlich gegen meinen Brustkorb.
Es warnt mich. Mein Herz warnt mich.
Mein Körper schreit Alarm.
Und ich weiß es.
Ich kann es gar nicht nicht wissen.

Adrenalin schießt durch meine Blutbahnen, ich umklammere meinen Schlüsselbund, lasse die Schlüssel einzeln zwischen meinen Fingern hervorschauen. Die Klingen schneiden etwas in meine weiche Haut, doch das ist es mir wert.

Sicherheit. Die Schlüssel vermitteln mir nichts als Sicherheit.

Ich achte auf jede Bewegung, jedes Geräusch, das nicht von mir stammen könnte, jeden verdächtigen Luftzug.

Auf Zehenspitzen schleiche ich durch das kahle Treppenhaus, das eine harte Kälte verströmt und mir das Gefühl gibt, allein zu sein und gleichzeitig unter Beobachtung zu stehen.

Jeder Schritt von mir wird von den gefliesten Wänden zurückgeworfen und hallt durch die schmalen Gänge.
Ich starre auf geschlossene Türen und Dreck, der die Fugen des Fußbodens ausfüllt, ich spüre Staub, wie er in meine Lunge dringt und in meiner Nase zu kitzeln beginnt.
Doch ich darf jetzt nicht niesen. Darf keinen Ton von mir geben.

Nicht, dass ich gehört werde... Nicht, dass jemand mitbekommt, dass ich hier bin.

Ich stöhne. Denn wenn ich genauer darüber nachdenke, ist das doch echt erbärmlich: Ein einzelner Gang zum Briefkasten fühlt sich an, als müsste ich auf einen ausbrechenden Vulkan klettern und mich gegen glühend heiße Lavamassen durchsetzen.
Lavamassen der Furcht, Gesteinsbrocken der Panik, die mir entgegen regnen.
Staub, der mir den Blick auf die Realität vernebelt.
Asche, die mir Tränen in die Augen schießen lässt, weil sie mich mit Erinnerungen beschmutzt, die ich schon längst hatte ausradieren wollen. Die kein Teil mehr von mir sein sollten. Die am besten nie einer gewesen wären.

Ich hasse es, mich zu erinnern, ich liebe es, mich zu erinnern, ich suhle mich in Nostalgie und gleichzeitig gibt es nichts, was ich mehr verfluche, als meinen Hang an der Vergangenheit.
Es ist ein bescheuerter Teufelskreis, aus dem ich keinen Ausweg weiß. Aber ausweglos fühlt sich sowieso so vieles an...

Ich atme ganz tief ein, dann steige ich jene Stufen im Treppenhaus meiner Großmutter nach oben, die mir am schwersten fallen. Es ist der letzte Treppenabsatz vor ihrer Wohnung. Und vor seiner.
Es ist der Ort, wo alles begann; der Ort, wo ich immer wieder zusehen musste, wie meine Grenzen mit den Füßen getreten und überschritten wurden, als wäre es das Normalste der Welt.
Und vielleicht war es das ja auch. Vielleicht lag es an mir, vielleicht war ich einfach zu schwach, um meine Grenzen durchzusetzen, vielleicht bin ich einfach nichts besseres wert gewesen.

Mit vor Anspannung tauben Fingern will ich die Wohnungstür aufschließen, als mir der Schlüsselbund aus den Fingern gleitet und knallend und klirrend zu Boden fällt.
Das Treppenhaus scheint mich auszulachen, wirft den Klang immer wieder zurück.
Das Klimpern hallt von den Wänden wider, immer und immer wieder, und ich kann nichts tun, stehe nur erstarrt da und bete.
Bete, dass sich die andere Wohnungstür auf der dritten Etage dieses Hauses nicht öffnet. Bete, seine Statue nicht vor Gesicht bekommen zu müssen.
Bete, seinem schmierigem Honigblick ausweichen zu können.
Wenigstens heute.
Oh bitte, wenigstens diese eine Mal.

Ich verharre noch einen Moment, dann fühle ich mich sicherer, bin überzeugt, dass er nicht da ist, heute, dass meine Gebete erhört wurden.

Also bücke ich mich, um die Schlüssel aufzuheben...

drowning - ein kurzgeschichten-sammelsuriumWo Geschichten leben. Entdecke jetzt