Im Kaleidoskop

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Für alle Farbensucher. Für alle Farbenfinder. Und für die Flüchtenden.

Die Lacher schütteln mich.
Es kommt einfach aus mir raus, mein Brustkorb ist gelöst, mein Herz schwebt und poltert.
Ich lache. Frei heraus und echt, echt, echt.

Ich atme.
Ich fliege.
Ich bin frei.

Kichernd verlasse ich den Raum - er ist voller Menschen, die mir sehr bekannt vorkommen. Ich bin fast ein bisschen froh, dass sie alle da sind.
Doch ich kann sie nicht zuordnen, weiß nur, sie sind Teil meiner Vergangenheit.
Einem Menschen entwischt ein Rülpser, was erneut einen Lachflash aus mir herausbrechen lässt.

Ich schüttle mich, stütze mich im warmen Flur auf meinen Knien ab und lache, lache, lache. Schluckauf kommt zu meinem inneren Wirrwarr dazu, aus dem Lachen wird ein quietschiges Schreien.

Grenzen verschwimmen.
Kullere ich mich über den Boden, oder ist es der Raum, der sich dreht?
Alles ist in Bewegung. Die Wände, die Bilder, der weiche Teppich - es ist, als trieben sie im offenen Meer umher, als würden sie von Wellen auf und ab geschaukelt.
Ich weiß nichts, und es ist mir sowasvon egal.

Mit einem Mal sehe ich mich, mein Spiegelbild, das Spiegelbild meines Spiegelbilds.
Alles spiegelt sich.
Alles ist groß und riesig und endlos.
Die Welt schwankt.
Die Gesetze der Physik sind außer Kraft getreten.
Alles ist grenzenlos.

Farben, Farben, Farben. Sie blenden, sie glänzen, sie funkeln, sie streichen über Armaturen eines PKWs.
Bin ich im Auto?
Ich vergesse alles.
Ich bin von der Realität abgekoppelt, mein Verstand läuft auf StandBy.

Es ist, als würde ich durch eine Plexiglasscheibe schauen.
Mein Leben, die Menschen, ich selbst - alles ist so undurchsichtig.
Ich kann nur sehen, was ich sehen will.

Freiheit.
Ja, so muss sie sich anfühlen.

Mit einem Ruck verändert sich alles. Ich bin wieder im Wohnzimmer.
Tagträumereien.
Aber jetzt bin ich allein.
Oder?

Farben, Farben, Farben.
Sie sind bunt, verändern sich sekündlich.
Es ist, als hätte ich zwei Kaleidoskope vor meinen Augen.
Ich sehe verschwommen und bunt und es gibt keine Grenzen, keine Gesetze.
Es gibt nur mich und die Farben.
Ich tanze mit ihnen.
Sie verlieren sich im Raum, ich verliere mich in ihnen.
Wir verschmelzen.
Alles verschmilzt endlos.

Ich bin glücklich.
Ich war noch nie so glücklich, wie ich es jetzt bin.

So muss sich highsein anfühlen.
Ja, ich glaube, ich bin high.
Ich schwebe. Irgendwo im Nirgendwo. In einer kaleidoskopischen Welt.
Ich bin high vom Glücklichsein.
Ich bin glücklich vom highsein. Von der Freiheit. Von der Endlosigkeit. Vom Ich-sein. Von meinem Leben.

Ich bin high und glücklich und ich fühle mich vollständig und erlöst.
Leichtigkeit.
Glück.
Zufriedenheit.

Euphorie betäubt und belebt mich zugleich. Ich bin schwerelos. Will, dass dieser Zustand für immer bleibt.

Es donnert. Regnet. Schüttet.
Die Tropfen prasseln auf meine Haut. Lila, gelb, blau, silber.
Ich fühle mich wie ein Mosaik, zusammengesetzt aus tausenden Farben. Der Regen und ich werden Eins.

Blitze zucken vom Himmel. Waagerecht, von oben nach unten, kreuz und quer. Versuchen, meine Haare zu erhaschen.
Ich ducke mich weg. Sie bekommen mich nicht.
Der Regen bildet einen funkelnden Schutzkokon, schirmt mich ab.
Meine Wangen sind nass. Die Tropfen schmücken mein Dekollete, in etwa so, als trüge ich eine diamentenbesetze Kette, die meine Haut schimmern lässt.
Alles schimmert.
Mein Leben flimmert wie ein alter, kaputter Röhrenfernseher. Nur nicht schwarz-weiß, sondern bunt.
Mein Leben findet in einem Kaleidoskop statt. Und ich will nie wieder heraus.

Ein lautes Knallen erschüttert mich. Wütend jagt es durch meinen Körper. Ich schrecke auf, blinzle gegen helles Tageslicht. Ein erzörnter Mann drischt mit der Faust auf meine Motorhaube, schreit, flucht, droht.
Gleich wird er Jones zertrümmert haben. Verdammte Scheiße. Ich kann meinen Van nicht auch noch verlieren, ist er doch das Einzige, was mir geblieben ist!

Das Kaleidoskop ist weg. Die Farben sind verschwunden, und mit ihnen meine Leichtigkeit und das Glücklichsein.
Ich war losgelöst. Doch jetzt bin ich wach, und gefangen in einem nie endenden Albtraum.

Meine Augen brennen noch immer vom vielen Weinen. Das Salz meiner Tränen spannt auf meinen Wangen, mein Dekollete ist von den Perlen meines Schmerzes nass.
Hier ist sie also, die Realität. Nicht Regen, nicht Donner, sondern ein wütender Mann und mein nächtlicher Heulkrampf.

Der Mann tritt gegen meine Stoßstange. Wahrscheinlich stehe ich auf seinem Privatgrund, also kann ich ihm seine Wut nicht verübeln.
Schließlich bin ich diejenige, die aussieht wie der letzte Penner, weil sie seit Wochen mit ihrem Van namens Jones durch die Weltgeschichte kurvt und auf ein Wunder hofft. Eins, das ihrer zermürbenden Flucht ein kurzes, schmerzloses Ende setzt. Eins, das ihr ein Leben gibt.

Also ziehe ich meine Flipflops aus, schiebe ein paar Chipstüten von den Gaspedalen weg, dränge die Hamburgerverpackung ans andere Ende meines Fußraums.
Hier drin müsste dringend aufgeräumt werden.
Doch nicht jetzt. Jetzt muss ich dafür sorgen, dass Jones heil davon kommt.

Dieser Mann ist eine Bedrohung. Für Jones. Aber allem voran eine für meine Existenz. Denn so erbärmlich sie auch scheint, aufgeben will ich sie nicht.

Also trete ich aufs Gaspedal, sehe zu, wie er erschrocken zurückspringt.
Ein hämisches Grinsen ziert mein Gesicht.
Das hat er davon, wenn er mein Leben im Kaleidoskop zerstört. Dennoch ist das Grinsen genauso schnell weg, wie es gekommen ist. Zurück bleibt nur mein schweres Herz und eine Menge Angst.
Und das Wissen, dass ich niemals so glücklich sein werde, wie ich es in meinem Traum war.

Also brause ich an dem Mann vorbei und fahre ins Ungewisse.
Ich düse mit Jones und meiner Wenigkeit in meine Zukunft. In eine ohne Kaleidoskop. Ich fahre in eine Zukunft, die keine Zukunft hat.

drowning - ein kurzgeschichten-sammelsuriumWo Geschichten leben. Entdecke jetzt