Kapitel 7 - Versöhnung

115 7 0
                                    

„Du hast Hiro also getroffen..." Kenichi wich schuldbewusst dem Blick des Schwarzhaarigen aus, der ihm gegenübersaß. Sie hatten sich wieder einmal zum Essen verabredet und er hatte bereits aus Kasamatsus Wortlaut heraus das Gefühl entwickelt, dass sie über eine ernste Angelegenheit sprechen würden. Ein großer Teil in ihm hatte bereits gewusst, dass es um seine Schwester gehen würde und bestätigt wurde diese Vermutung, als Yukio von seinem Treffen mit ihr berichtete. Es war unausweichlich gewesen, dass dieses Geheimnis irgendwann gelüftet werden würde, dennoch hatte er gehofft, dass er dieses Gespräch noch etwas hinauszögern könnte. „Lässt du es mich erklären?", fragte er und sah dann doch wieder in Yukios ernstes Gesicht. „Ich bin ganz Ohr", war alles, was der Schwarzhaarige dazu sagte. Kenichi seufzte innerlich und sah kurz nach draußen. Es regnete wieder einmal – Regen war Hiros Lieblingswetter, weshalb er dabei immer an sie denken musste. Er hatte sie nicht mehr gesehen oder gesprochen, seitdem sie ihm gesagt hatte, er solle sich verpissen. „Wo fange ich nur an...?" Der ehemalige Spieler der Yōsen kratzte sich etwas am Hinterkopf und dachte noch ein wenig nach, ehe er dann zu erzählen begann: „Wie du mittlerweile weißt, ist Hiromi meine kleine Schwester. Weil unser Altersunterschied gerade einmal ein Jahr beträgt, hingen wir eigentlich immer zusammen. Sei es in unseren Schulen oder unseren Interessen. Vielleicht ist das auch der Grund, warum aus ihr nie so ein typisches Mädchen geworden ist. Wenn du sie getroffen hast, dann weißt du sicher, was ich meine." Und nicht nur das... Hiro fiel in vielerlei Hinsicht aus der Norm heraus, was Japanerinnen anging. Sie war sehr viel größer als der Durchschnitt und auch ihr Körper passte nicht in das zierliche Bild eines kleinen, japanischen Schulmädchens. Da sie stets viel Sport gemacht hatte, war ihr das immer zugutegekommen.

„Wir haben in unserer Jugend angefangen mit dem Basketball. Während ich wegen meiner Größe von dem Schulklub rekrutiert worden war, hat Hiro erst durch mich den Sport kennengelernt. Dennoch war es recht schnell offensichtlich, dass sie das größere Talent von uns besaß. Man kann uns natürlich nur schwer vergleichen; ihr Niveau bezieht sich auf den Frauenbasketball, meines auf den Männerbasketball. Aber in ihrer Liga, in ihrer Welt... Da hat sie heller gestrahlt als jede andere. Ich glaube, ab der Mittelschule hatte sie für sich entschieden, dass sie Profisportlerin werden wollte und hat alles dafür getan. Wegen unserer Größe und unserem Geschick wurden wir beide von der Yōsen angeworben, wo wir auch beide im Laufe unserer Schulzeit die Kapitäne unserer Teams wurden. In ihrem letzten Jahr hat Hiro ihr Team sogar zum Sieg der Nationalmeisterschaft geführt... Mit ihrem Optimismus, ihrem Charme und auch ihrer Freude, ob nun zum Basketball oder anderen Dingen, konnte sie einfach jeden anstecken und begeistern." Das war seine Schwester, wie er sie in Erinnerung hatte. Sie war der eindrucksvollste und liebevollste Mensch gewesen, den er gekannt hatte; ein Vorbild und eine Inspiration für andere. „Dann kam der Unfall... Am Tag ihrer Abschlussfeier." Der Mensch, der mit Abstand am schlimmsten darunter litt, war zweifelsohne Hiromi. Immerhin war sie diejenige, die mit den Folgen des Unfalls zurechtkommen musste. Ihr Körper war geschunden, sie litt jeden Tag unter Schmerzen, ihr Leben und ihre Träume lagen in einem Scherbenhaufen. Doch... Auch er litt unter diesem Tag, selbst nachdem mittlerweile Monate vergangen waren.

„Ich war bei ihr, Kasamatsu. Ich habe sie von der Schule abgeholt und war mit ihr auf dem Weg nach Hause. Wir wollten im Kreise unserer Familie Sukiyaki essen und ihren Abschluss feiern. Dann hielten neben uns ihre Klassenkameraden, die sie auf eine kleine Spritztour mitnehmen wollten. Ich hatte ihr gesagt, dass wir nach Hause sollten, sie wollte aber lieber mit ihren Freunden noch etwas Spaß haben. Also habe ich sie in diesen Wagen steigen lassen. Ich weiß, dass Hiro mir dafür nicht die Schuld gibt. Aber ich gebe sie mir. Hätte ich darauf beharrt, dass wir heimgehen, wäre das nicht passiert. Sie würde jetzt in Kyōto studieren und ihren Traum leben. Ich sehe in ihrem Leiden meine Teilschuld. Ich weiß nicht, wie andere zu ihren Geschwistern stehen, aber mir ist meine Schwester unglaublich wichtig. Ich liebe sie natürlich und als großer Bruder will ich sie vor allem beschützen. Jedes Mal, wenn ich sie jetzt sehe, sehe ich, dass ich sie vor rein gar nichts beschützt habe."

Wrong NumberWo Geschichten leben. Entdecke jetzt