Die Zauberin

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Von jenem Tage an streiften die Liebenden rastlos durch die Lande. Sie mieden die Wohnstätten der Menschen, denn sie versprachen sich von ihnen nur Verachtung, waren ihre tierischen Gestalten, der Wolf und die Sperbereule, doch ein Zeugnis ihrer Unehre. Allein der Umstand, am Leben zu sein und miteinander, gab ihnen Trost. Die Suche trieb sie voran nach irgendeiner Magie, die ihnen helfen könnte. Bei Tageslicht durchstreifte so ein scheinbar einsamer, hochgewachsener Mann, gekleidet in den zerschlissenen Umhang eines Ritters die Wälder und Täler. Das Haupt hielt er verborgen unter seiner Kapuze, ein Schwert versteckt unter grobem Stoff und auf der Schulter saß ihm ein Vogel in wunderschönem Federkleid wie ein zur Jagd abgerichteter Falke. Jeder, der den Wanderer von Ferne sah, hielt ihn für einen Vogelfreien, einen Ausgestoßenen.

Bei Nacht aber strich ein geheimnisvoller junger Mann unter dem Mond umher. Ungeachtet des Windes, des Regens oder Schnees. Bei sich führte er einen schwarzen Wolf, dessen silberne Augen gefährlich aufblitzten. Niemand wagte es, ihm zu nahe zu kommen, denn er konnte nur ein Zauberer sein.

So vergingen mehrere Jahre und den beiden Liebenden kamen sie vor wie eine Ewigkeit, dem anderen so nah und doch so fern. Sie schienen nicht zu altern, was bedeuten mochte, dass sie bis zum Ende der Zeit so leben müssten, wenn es ihnen nicht gelang, den Fluch zu brechen. Nur in den kurzen Augenblicken bei Anbruch von Tag und Nacht, während ihrer Verwandlung, trafen sich manchmal ihre Blicke aus menschlichen Augen. Sie verrieten beides: unendliche Liebe und ebenso große Sehnsucht. 

Eines Tages rastete Lear auf dem windigen Kamm eines Hügels, während Marisandros hoch über ihm seine Kreise zog. Da sah dieser etwas mit seinen Raubvogelaugen und kaum hatte er begriffen, was es war, segelte er auf die Schulter seines Ritters hinab, nur um gleich darauf wieder aufzusteigen und in Richtung eines fern gelegenen Dorfes zu fliegen. Er wusste, sein Liebster würde ihm folgen. Als sie näherkamen, erkannte auch Lear, was vor sich ging und er war noch immer Ritter genug, um es nicht zu dulden: Inmitten der ärmlichen Hütten hatte man auf einem freien Platz einen Pfahl errichtet, an dem eine Frau festgebunden war. Sie musste schreckliche Angst leiden, denn eine große Anzahl Dorfbewohner hatte sie umringt, beschimpfte sie und warf mit allerlei Unrat und Steinen nach ihr.

„Sofort aufhören!", rief Lear schon von weitem. Seine Stimme war vom Leben in der Wildnis und den Nächten als Wolf stärker und rauer geworden, sodass sie über den Platz donnerte. Der wütende Mob verstummte vor Schreck.

„Was nimmst du dir heraus? Wer bist du?", wagte ein besser gekleideter Mann zu sagen, der offenkundig der Vorsteher des Ortes war. Gleichzeitig deutete er auf eine kleine Gruppe mit Speeren bewaffneter Männer.

Lear schnaubte nur verächtlich.

„Diese da sind keine Gegner für mich. Alles, was sie können, alles, was Ihr könnt, ist, ein harmloses Weib zu schinden. Und ich bin jemand, der so etwas nicht zulässt!"

Mit diesen Worten zog er den Umhang etwas zur Seite, sodass sein mächtiges Schwert aufblitzte. Allein der Glanz der Klinge zeugte von der großen Macht ihres Besitzers, und so wichen die Leute, die Waffenträger und auch der Herr über den Ort aus, als Lear geradewegs auf den Pfahl zuschritt, die verängstigte Frau losband und sie einfach an der Hand fortführte.

„Wagt es nicht, uns zu folgen, sonst bewirkt mein Unglücksrabe dort oben einen Fluch über euch!"

Wie um diese Drohung zu bekräftigen, stieß die Sperbereule hoch über dem Platz unheilvoll krächzende Rufe aus. Im Gegenlicht wirkte ihr Gefieder schwarz und so traute sich niemand auch nur laut zu atmen. Der Ritter aber und die Frau, die noch nicht recht verstand, dass sie gerettet war, verließen das Dorf, ohne dass man versuchte, sie daran zu hindern. Marisandros kreiste noch immer über der Menge, bis er schließlich folgte und auf Lears Schulter landete.

Der Wolf und die Sperbereule - Gay RomanceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt