Jun
Ich lösche das Gaslicht zu Naris Schlafnische und mit einem Klick hüllt sich die Dunkelheit um das kleine Häufchen unter der Decke.
„Jun-oppa?", murmelt sie in die Nacht.
„Was ist denn?"
„Sie ist noch immer draussen."
„Na und? Schlaf jetzt, Nari."
„Aber es sind gerade mal drei Grad Fahrenheit."
Woher sie das weiss, frage ich nicht nach. Meine kleine Schwester kann ein Thermometer lesen. Ich seufze und reibe mir den Nasenansatz. Es ist eine eiskalte Nacht draussen. Eine, die man in einem warmen Unterschlupf verbringen sollte, aber Knox wollte für sich alleine sein.
Ich bin der Letzte, der sie aufhalten würde. Von mir aus kann sie für immer weg bleiben.
„Knox ist gross genug", erwidere ich. „Sie weiss, was sie tut."
Nari setzt sich auf ihrem Bett auf, sodass ihr die Haare abstehen. Ihre dunklen Augen schimmern im fahlen Mondlicht.
„Sie sah so traurig aus."
„Nari, lass gut sein."
„So traurig wie Umma." Die Stimme meiner Schwester bricht bei der Erwähnung unserer Mutter.
„Sie ist einfach schlecht gelaunt", murre ich. „Weisst du, manchmal können Tage anstrengend sein und dann lächelt man halt nicht so viel."
Nari wirft sich ergeben ins Kissen.
„Was haben Erwachsene auch immer mit diesen grossen Flaschen", murmelt sie vor sich hin und gähnt.
„Gute Nacht, Nari."
Etwas verzögert erhalte ich die Antwort. „Gute Nacht, Jun-oppa."
Ich drehe mich um, doch dann bleibe ich ruckartig stehen. Moment. Was hat sie gesagt?
„Nari?"
„Hmmm?"
„Welche Flasche meintest du?"
„Knox ist mit einer grossen Flasche in der Hand nach draussen."
Ich balle meine Hände zu Fäusten. „Welche Farbe hatte die?"
„Weiss und blau."
Fuck! Ich renne sofort zur Tür. Dieses Miststück hat sich meine Wodkaflasche geschnappt.
„Wo gehst du hin?", ruft mir meine Schwester hinterher.
„Knox suchen. Bleib hier und leg dich schlafen!"
Ich werfe mir die Lederjacke über. Mit der Schulter stosse ich die Haupteingangstür vom Quincy Market auf, sodass es sie fast aus den Scharnieren schleudert. Eine eisige Böe weht mir entgegen. Scheisse, ist das kalt! Der Platz ist leergefegt, keine Spur von Knox und ihrem grauen Hoodie.
Meine Gedanken rattern. Was hatte sie gemeint? Sie wollte etwas feiern? Einen Geburtstag? Einen Jahrestag?
Ich stehe in der Dunkelheit und grüble. Meine Ohren nehmen jedes noch so kleine Geräusch wahr, das um mich herum ertönt. Das Orchester der toten Stadt, das ich in- und auswendig kenne.
Da kommt mir ein Gedanke.
Fishin' stuff.
Gemächlich jogge ich in die Richtung des Meeres. Der Hafen von Boston ist in solch kalten Nächten kein guter Ort, um zu verweilen, denn die arktische Luft weht westwärts vom Meer in die Stadt. Dort kriegt man die volle Ladung ab.
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The Green Line
Science FictionBoston, Massachussetts, 2030 Seit dem Sonnensturm, der die Welt ins Chaos stürzte, kämpft Ophelia auf den Strassen ihrer Heimatstadt um ihr Überleben. Die Gnadenlosigkeit der ersten Stunden und der Verlust ihrer Familie sitzen tief in ihren Knochen...