Ophelia
Ich bewege mich wie auf Eierschalen durch den Raum. Hinter mir schnaubt der territoriale Streuner laut seinen Frust durch die Nase. Er wollte mich sowas von nicht reinlassen, denn er hat etwas zu verlieren.
Seine Schwester, die so dünn ist, dass sie aussieht als könnte sie jeden Moment zerbrechen.
Ich kenne das Gefühl von saurem Atem auf der Zunge und das ziehende Loch im Bauch, weil man tagelang nichts gegessen hat.
Nari scheint das auch zu kennen. Viel zu gut für ihr Alter. Ebenso der Streuner, der mich nicht aus seinen Augen lässt und jede meiner Bewegungen genauestens mitverfolgt.
Den Rucksack befördere ich auf den Esstisch und lasse ihn dort stehen. Ich entferne mich mit erhobenen Händen davon, als befände sich darin eine Bombe. Ich will Jun damit verdeutlichen, dass ich mein Angebot ernst gemeint habe.
Das Zeug wird geteilt.
Während wir beide uns einfach anstarren, hören wir Nari schmatzen. Sie hat sich wieder in ihr Bett gesetzt und stopft sich den viel zu grossen Schokoladenriegel in den Mund, beisst kleine Stücke ab und kaut sie lange.
Sie hat gelernt, mit Vorsicht und Geduld zu geniessen. Immerhin etwas, das der Typ ihr richtig beigebracht hat. Das rechne ich ihm hoch an — mal abgesehen von der Tatsache, dass er seine Schwester in einer Todesfalle gefangen hält.
Jun bewegt sich nicht. Diese mandelförmigen, rabenschwarzen Augen lassen keine Sekunde von mir ab. Er scheint mich analysieren, mich durchleuchten zu wollen.
„Das ist soooo lecker!", hören wir Nari stöhnen.
Und dann kichert sie. So fröhlich und aus vollstem Herzen, dass sich Juns düstere Gesichtszüge entspannen. Dagegen kommt keine Körperbeherrschung an.
Ich lasse meine Hand in den Rucksack gleiten und ziehe ein zweites Snickers hervor, gebe Jun kaum die Möglichkeit, zu registrieren, was ich tue und werfe ihm den Riegel an. Er knallt ihm gegen die Brust, doch er fängt ihn auf.
„Für den Piekser", sage ich und zeige auf seine Rippe — etwa dort, wo ich ihn erstechen wollte. Direkt ins Herz.
Er fletscht die Zähne.
„Sorry", füge ich mit einem Katzengrinsen hinzu und werde Zeugin davon, wie ihm für einen Moment die Gesichtszüge entgleiten. „Bist mir an einem etwas schlechten Tag über den Weg gelaufen."
Jun beäugt mich, dann den Schoko-Riegel in seiner Hand und endlich beschliesst er, ihn aus seiner Plastikverpackung zu befreien. Ich reisse die M&Ms-Tüte auf und greife eine Handvoll heraus.
„Was du nicht sagst", schnaubt er und schmeisst sich aufs abgesessene Sofa.
Er lässt ein tiefes Brummen hören, als seine Zähne sich in den zähen Schoko-Erdnuss-Karamell-Riegel vergraben. Ich werfe mir drei gelbe M&Ms in den Mund und streife meine Jacke ab. Sie ist schwer und trieft vor Nässe. Der Schnee hat sich in den Stoff gesogen.
Mit den Augen suche ich nach einer geeigneten Stelle, an welcher ich die Jacke aufhängen kann, ohne dass sie alles volltropft.
„Wo kann ich die trocknen?", frage ich Jun und deute in die Richtung des Heizkörpers, welcher neben Naris Bett steht. Er würde mich niemals zu nahe an seine Schwester lassen, das weiss ich, darum benehme ich mich so brav wie ein gut erzogenes Hündchen.
Jun schaut mich einfach nur an und kaut an dem Snickers herum, das ich ihm gegeben habe. Er denkt nach.
Als er schluckt, sagt er: „Wirf rüber."
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The Green Line
خيال علميBoston, Massachussetts, 2030 Seit dem Sonnensturm, der die Welt ins Chaos stürzte, kämpft Ophelia auf den Strassen ihrer Heimatstadt um ihr Überleben. Die Gnadenlosigkeit der ersten Stunden und der Verlust ihrer Familie sitzen tief in ihren Knochen...