Ophelia
An manchen Tagen stelle ich mir vor, dass du bloss in den Raum nebenan gegangen bist.
Obwohl ich mich damit selbst belüge, hält der Gedanke meine Tränen zurück. Er knebelt den Schmerz, sodass er nicht brüllen kann.
Mein Blick fällt auf die Möbel in unserem Wohnzimmer und ich kann es nicht verhindern, mich zu erinnern. Wie ich vor Ewigkeiten meine Füsse vom Kaffeetisch gehoben und deinen Namen durch die Stube gekreischt habe und du dann deine Fresse mit diesem rechthaberischen Grinsen durch den Türrahmen gesteckt hast, um mir zu antworten:
„Nicht jetzt Oph, die Sox spielen!"
„Ich hoffe, sie verlieren, nur damit ich dich heulen sehen kann!"
Dein Mittelfinger ist dann sofort in die Höhe gejagt und du bist wieder ins andere Zimmer verschwunden.
Es ist so einfach, sich an bessere Zeiten zu erinnern.
Aber du bist nicht mehr da und unser Wohnzimmer ist still.
Ich habe mich nie an diese unnatürliche Ruhe gewöhnt. Der Tod hat sich die Welt geschnappt und sich über sie gelegt wie ein viel zu schweres Leichentuch.
Kein Leben. Nur glatte, saubere Stille.
Alles, was ich höre, ist mein eigenes Herz in der Brust und wie es gegen meine Rippen schlägt. Der tickende Beweis dafür, dass sie mich noch nicht auslöschen konnten. Bei dir haben sie es geschafft und ich verfluche Gott dafür, dass es nicht ich gewesen war.
Ich hätte es eher verdient. Du nicht. Du niemals.
Das Wohnzimmer ist staubig, als hätte es hier drin geschneit.
Dabei ist das kein Schnee. Du bist es. Du bist hier. Überall. Auf dem Teppich, auf dem Sofa, unter dem Tisch. Dein Geist ruht hier, liegt wahrscheinlich faul auf der abgesessenen Couch und verdammt mich gerade dafür, dass ich zurückgekehrt bin.
Oh, wie sehr du mich zusammenscheissen würdest.
„Das Risiko ist zu gross. Sie könnten dich entdecken, Oph. Besser du versteckst dich!", hättest du gesagt.
Vergiss es.
Ich verstecke mich schon lange nicht mehr. Nicht seit sie dich aus meinem Leben gerissen haben.
Ich mache einen Schritt ins Wohnzimmer und sehe sie, deine Baseballkappe, die du aufhattest, als sie uns entdeckten. Auch dein T-Shirt liegt noch dort. Zu einem staubigen, zerknitterten Haufen verkommen. Das Blut ist längst vertrocknet. Nur noch ein brauner Fleck, als sei es Schokolade. Oder Erde.
Meine Finger zittern, als ich mich runterbeuge und die Kappe aufhebe. Ich schüttle den Staub von der vorderen Paneele. Das weinrote B der Boston Red Sox leuchtet mir entgegen und zaubert mir ein müdes Lächeln auf die Lippen. Mit geschlossenen Augen hebe ich die Kappe an meine Nase und ziehe die Luft ein, in der Hoffnung, dass die Leblosigkeit der Welt nicht auch noch deinen Geruch aus dem Stoff gestohlen hat.
Hat sie nicht.
Er ist da. Dein Duft nach Meersalz, Motorenöl und einem Hauch Erdnussbutter, weil du dieses Zeug so geliebt und ständig gemampft hast. Es ist eine Umarmung für meine Seele, dir wieder so nahe sein zu können.
Ganz unwillkürlich sehe ich dich, wie du im grauen Hoodie am Boston Harbor Dock stehst und die Touristen zum Whalewatching überredest. Dein breites Grinsen lockte selbst den mürrischsten Idioten an.
Dein Lächeln hat dir oft die Haut gerettet.
Bis vor einem Jahr, als die Sammler kamen. Da konnte selbst das nicht mehr helfen. Nichts konnte dir mehr helfen. Auch ich nicht.
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The Green Line
Ficção CientíficaBoston, Massachussetts, 2030 Seit dem Sonnensturm, der die Welt ins Chaos stürzte, kämpft Ophelia auf den Strassen ihrer Heimatstadt um ihr Überleben. Die Gnadenlosigkeit der ersten Stunden und der Verlust ihrer Familie sitzen tief in ihren Knochen...