23. A bloodsoaked guardian angel

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Jun

Panische Rufe werden über den kalten Wind zu uns herangetragen, lassen mich den Kopf recken.

Auf der linken Tribüne geht eine Hütte in Flammen auf. Ich sehe es nur von Weitem. Das Feuer schlägt um sich, greift auf die notdürftigen Baracken über, als wären sie Stroh.

Ein Inferno breitet sich aus. Der Wind, der uns um die Ohren schlägt, scheint helfen zu wollen. Er füttert das Feuer mit Sauerstoff, lässt es in die Höhe wachsen. Häuser, Hütten und Zelte werden Opfer von den Flammen, ihre Bewohner stürzen aus den Türen, trampeln sich in den viel zu engen Gassen gegenseitig nieder.

In der Panik rettet jeder seine eigene Haut.

Das Feuer klettert in rasender Geschwindigkeit von der Mitte des Stadions auf die oberen Reihen der Tribüne.

Dann – plötzlich – noch eine Explosion.

Dieses Mal weiter unten, schon beinahe auf dem Spielfeld.

Das ist kein Unfall. Das ist gewollt.

Eine Brandrodung.

Ein Kahlschlag.

Meine Sicht verschwimmt, als ich mich am Pfahl abstütze und mich auf die Beine raffe.

Männer rennen in alle Richtungen. Der Mittfünfziger und Santiago blicken verwirrt um sich. Die Wachen haben die Flucht ergriffen. Niemand kümmert es, was aus uns wird.

Der ältere Mann zögert keinen Augenblick. Selbst wenn der Stacheldraht sich in sein Fleisch schneidet, erklimmt er den Zaun und springt auf die andere Seite in die Freiheit.

„Mach auf!", brüllt Santiago.

Der Mittfünfziger wirft uns einen abschätzigen Blick zu und dann geht er einfach – lässt uns zurück, dieser scheiss Rassist.

Schwindel ergreift mich und zwingt mich in die Knie. Währenddessen läuft Santi am Gehege auf und ab. Ich kann es ihm ansehen, wie er mit dem Gedanken spielt, seine Haut auch vom Zaun aufschlitzen zu lassen, aber er zögert.

„Wir werden hier ersticken!", jammert er.

Ich kneife mein linkes Auge zu und fokussiere mich auf ihn. „Wirf die Lederjacke auf den Stacheldraht", weise ich ihn an. Ein einfacher Trick, aber ein hilfreicher. „Damit wirst du dich weniger verletzen."

Santiago starrt mich an, als hätte ich eine fremde Sprache gesprochen. Ich hebe die Augenbrauen und deute auf meine braune Jacke, die er um seine Schultern trägt. Ich verüble es ihm ganz und gar nicht, dass er sie mir abgenommen hatte, als ich bewusstlos am Boden lag, aber jetzt soll er sie uns zunutze machen.

Er versteht meinen Hinweis und streift die Jacke ab. Zwei Versuche benötigt er, bis sie über dem Zaun hängt.

„Ich komm da nicht hoch!", stöhnt er.

Er ist zu klein gewachsen und ich bin nicht imstande zu klettern. Stöhnend erhebe ich mich und schwanke auf ihn zu. Als ich vor ihm stehe, mache ich die Räuberleiter.

Der Junge zagt nicht, klettert auf mich und mit einem festen Stoss befördere ich ihn auf das Gitter. Mir nimmt es das Gleichgewicht, aber Santiago hat es darüber geschafft. Er fällt auf der anderen Seite zu Boden, rappelt sich wieder auf und zerrt die Jacke vom Zaun. Schwungvoll findet sie wieder ihren Platz um seine Schultern.

„Danke, Mann", sagt er und macht sich auf den Weg zum Tor, um es für mich zu öffnen.

In dem Moment ballern Schüsse durch die Luft.

Santiago klappt in sich zusammen.

Getroffen.

Fuck, das war mein Ticket in die Freiheit!

The Green LineWo Geschichten leben. Entdecke jetzt