#9 J.NoOne

13 3 0
                                    

Ein gleichgültiges "Bin wieder da" füllte kurz die bereits dunkle Wohnung, um meinen Eltern von meiner Rückkehr zu berichten, die mich ebenso emotionslos empfingen. Dabei ließen sie sich nicht einmal blicken, sondern erhoben ebenfalls ihre Stimme, um mir zu zeigen, dass sie davon Kenntnis genommen hatten. Darüber war ich auch ganz froh, weil sie so meine halbgeschlossenen Augenlider nicht sehen können und ich nicht so tun muss, als wäre ich nüchtern. Damit konnte ich einfach in meinem benebelten Zustand verweilen, der mich geradewegs in mein Bett führte.

Unter dem Einfluss meiner getäuschten Wahrnehmung fühlte sich mein Bett unglaublich weich an. Alles war so viel intensiver, dennoch so viel entspannter. Der Geruch von Ji, der von seinem Schlafshirt ausging, das er vor einiger Zeit hier vergessen hatte, war damit so präsent wie schon lange nicht mehr. Immerhin liegt sein Shirt schon seit zwei oder drei Wochen hier herum, womit der Großteil seiner Duftnote verflogen war. Nicht aber im Rausch, der meine Sinne schärfte und mich damit in einem wohligen Gefühl bettete. Auch die Musik in meinem Ohr klang so viel angenehmer als ich sie sowieso immer empfinde. Sie begleitete mich in meinem schwerelosen Zustand und schien, als würde sie eine schützende Hand auf mich legen.

Doch das tat sie nicht.

Nichts tat es.

Nichts außer dem Schlaf, der mich an der Hand sanft ins Land der Träume führte, wo ich vor einer großen Leere stehen würde. Wie immer, wenn ich geraucht habe, was ein schöner Nebeneffekt ist. So gerne ich manchmal auch träume, so sehr hasse ich es auch. Träume sind nur belanglose Illusionen, mit denen unser Unterbewusstsein uns einen Streich spielt. Es gaukelt uns Welten vor, die nicht existieren und lässt uns unrealistische Szenarien für wahr empfinden. Es ist ein Spiel mit unseren Gefühlen, das wir nicht gewinnen können.

Darum war ich heilfroh, als ich traumlos meine Augen öffnete, lieblich geweckt von meinem leisen Wecker.

Noch zwanzig Minuten hatte ich, bis ich mich fertig machen und losgehen müsste, damit ich pünktlich am Treffpunkt sein würde. Vorher ging ich aber sicher, ob Ji überhaupt wach ist, indem ich ihm eine kurze Nachricht schrieb. Während ich auf eine Antwort wartete, tauchte ich in die digitale Welt meines Handys ein, wo manches leider realer ist, als ich es mir wünschen würde. So auch der Blog von J.NoOne, den ich vor kurzem entdeckt hatte.

J.NoOne
'Ich hasse es. Ich hasse alles und besonders sie. Meine Mum. Wieso macht sie denn nie was, wenn mein Vater wieder komplett drüber ist? Einfach Wahnsinn. So sehr wurde ich seit langem nicht mehr angeschrien und jetzt hab ich auch noch Hausarrest. Eingesperrt mit meinen Lieblingsmenschen. #LifeGoal #BestMum'

Es brach mir das Herz, weil ich wusste, wem diese Worte gehören. Zu Anfang war ich mir nicht sicher, was sich in letzter Zeit immer mehr geändert hat. Es gab immer mehr Indizien, die Jisung seinen Namen regelrecht ins Internet schrien. Hier ließ er das alles raus, was er mir vorhin verschwiegen hat, als er mir einen kleinen Einblick gewährte. So war es in vielen seiner Beiträge, egal wie weit sie in der Vergangenheit lagen. Fast jeder Beitrag handelte dabei von seinen Eltern, manch einer aber auch von unseren Lehrern und wie sehr ihn die Schule doch abfuckt, was anfänglich einen Teil meiner Unsicherheit legte.

Wenn ihn die Schule so gegen den Stricht geht, bin ich dann damit auch gemeint?

Eine gar nicht so unberechtigte Frage, würde ich meinen, nach dem einen Post, der mir seit seiner Veröffentlichung immer wieder durch den Kopf spukt. Es war eine der wenigen Zeilen, wo er nicht auf die Kommentare darunter einging und sie letztendlich sogar sperrte. Eine Zeile, die mein Herz kurzzeitig aufhören ließ zu schlagen.

,,Was ist eigentlich mit ihm... warum tut er mir so weh?", flüsterte ich leise vor mich hin, womit ich die Worte wiederholte, die sich wie ein Mantra in mir festgesetzt hatte. Zu gerne wüsste ich, wen er damit meint. Zuerst dachte ich, er würde seinen Vater meinen, was ich jedoch ausschloss. Grund dafür war, dass er sonst immer auf den Umgang mit seinen Eltern eingeht und gerade dieses Thema viel bespricht und seinen Frust somit entlädt. Außerdem hat er sonst nie erwähnt, dass er ihn körperlich in irgendeiner Form angeht, was nichts bedeuten muss, was ich dennoch als unwahrscheinlich einstufe. Er scheint den Schutz der Anonymität so sehr zu genießen, dass ich mir vorstellen kann, dass er auch nonverbale Gewalt kommunizieren würde.

Wen also meint er?

So manches Mal machte sich die Angst in mir breit, dass ich derjenige sein könnte, auch wenn ich mir nicht erklären kann, wie ich ihn in irgendeiner Form verletze. Immer fasse ich ihn so gut es geht mit Samthandschuhen an und achte stets auf sein Wohlbefinden. Darf ich mal nicht bei ihm zu Hause mit rein, warte ich immer eisern vor seiner Wohnung, egal wie viel Zeit ich alleine zubringe. In der Schule spendiere ich ihm immer wenn ich kann sein Lieblingsessen, wenn er gerade nicht das nötige Kleingeld hat und auch bin ich immer für ihn da, wenn er ein Ohr zum Ausheulen braucht.

Könnte also wirklich ich gemeint sein?

Angepisst stieß ich die Luft scharf aus meinen Lungen, bevor ich mich schwunghaft aufsetzte, was ich direkt bereute. Auch wenn meine Gedanken und mein Verstand wieder relativ klar sind, ist es mein Körper längst nicht. Er befindet sich immer noch in diesem nebligen Modus, wo alles etwas schwummrig und langsamer ist, weswegen die schnelle Bewegung ein Schwindelgefühl ausgelöst hatte. Kurz ließ ich sie meinen Körper beherrschen, bis sie von von alleine von mir abließ und ich fähig war aufzustehen. Mit dunkel gewählten Klamotten ging es dann los, zu meiner Haustür, wo ich mir meine Schuhe so leise ich konnte über die Füße zog. Fast lautlos verließ ich die Wohnung, auch wenn ich mir sicher war, dass ich so leise gar nicht sein müsste.

Meine Eltern schlafen ziemlich tief und haben nicht einmal bemerkt, als mir bei einer nächtlichen Fluchtaktion einmal die Tür etwas stärker zugefallen ist. Trotzdem aber wollte ich mein Glück nicht herausfordern, da mir Ji endlich geantwortet hat und meinte längst bereit zu sein. Voller Vorfreude ging ich also in den Keller, um dort mein schwarzes Fahrrad herauszuholen, das mich gleich zu meinem besten Freund bringen würde.

Kaum hatte ich die Haustür geöffnet, empfing mich die kühle Sommerluft, die ich genüsslich einzog. Für einen Augenblick genoss ich die Ruhe, die Nachts so anders ist, als am Tage, was einer der Gründe für meine große Liebe zu ihr ist.

Die Dunkelheit verbirgt das rege Treiben der Straßen, die sonst überfüllt mit gestressten Menschen sind und offenbart, was normalerweise vom Tageslicht verschlungen wird. In der Nacht duftet die Erde ganz anders, die Stimmen der wenigen nachtaktiven Vögel klingen viel klarer und selbst der kleinste Windhauch ist auf meinen leicht erhitzten Wangen zu spüren. Durch die geheimnisvolle Stille lässt sich manches Mal sogar vergessen, dass ich immer noch in derselben Welt bin. Im selben Land, in derselben Stadt, vor dem selben Gebäude. Auch mein Herzschlag hört sich plötzlich anders an, der sonst kaum Aufmerksamkeit genießt. Mit dieser Ruhe ist man fast schon gezwungen in sich zu kehren und Antworten auf Fragen zu finden, die sich kaum einer traut zu stellen.

Ein stummer Kampf zwischen Einsamkeit und Frieden.

Das Vibrieren meines Handys durchbrach diesen Frieden, als ich von Jisung eine Nachricht erhielt. Er hatte es scheinbar aus seiner Wohnung geschafft und mir ein Bild gesendet, wo er durch die Dunkelheit kaum erkennbar war. Trotzdem schlich sich ein Lächeln auf mein Gesicht, weil ich kein Licht brauchte, um genau zu wissen, wie sein Blick auf dem Foto ist. Er war regelrecht vor meinem inneren Auge eingebrannt, nachdem ich ihn schon so oft gesehen habe. Trotzdem war es nie oft genug, weswegen ich das Foto abspeicherte und in meinen Jisungordner verschob. Als Reaktion auf sein Bild sendete ich ihm ebenfalls eins, jedoch nur von meinem Fahrradlenker, da ich nur sehr ungern auf Fotos zu sehen bin. Zwar bin ich es durch sein kleines Hobby schon gewohnt, jedoch kann ich es nicht leiden, wenn ich selbst ein Foto von mir schieße.

01:42 Minho
'Wer zuletzt da ist, zahlt die nächste Runde!'

Damit steckte ich einen Kopfhörer in mein Ohr, um die Stille der Nacht mit Musik zu genießen, bevor ich mein Handy in einer meiner Hosentaschen verstaute und kräftig in die Pedalen trat.

Schenk mir doch Bitte ein Foto!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt