chapter 1

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20:05:15. Immerwieder schaute Rose auf ihre schmale, goldene Digitaluhr. Außer ihr und 2 dünnen Armbändern trug sie keinen Schmuck an den Handgelenken. Sie mochte es nicht, mochte es noch nie wenn man sie durch das leise Klimpern schon vor ihrem Erscheinen hören konnte.

20:05:30. In einer Stunde würde sie sich endlich aus dem steifen, weißen Kittel schälen und in ihre eigenen Sachen schlüpfen können. Vielleicht, nur vielleicht würde sie nicht so müde wie an den vorherigen Wochenenden sein und fast in der Dusche einschlafen. In ihrem Spind hatte sie noch eine kleine Tasche mit Schminksachen, wahrscheinlich lässt sich sogar etwas finden, dass man zum Ausgehen tragen könnte.

Als Rose das nächste Mal auf die Uhr schaute, wäre sie fast in eine Schwester hineingelaufen, die ihr gerade einen Stapel mit Patientendokumenten übergeben wollte. "Sind sie nicht die, die heute Dr. James zugeteilt ist?" Müde nickte sie, hätte sich aber schon im nächsten Moment mit einem dieser Ordner auf ihrem Arm schlagen können. "Die Notaufnahme ist unterbesetzt und heute Abend brechend voll, sie sollen sich um die Patienten kümmern bei denen er noch keine Visite machen konnte."

Damit ließ die Schwester sie stehen.

"Er hätte mir wenigstens einen Kaffee mit zu den Akten stellen können", dachte die junge Ärztin missmutig, während sie die ersten Akten durchging.

Vielleicht könnte man jetzt das Gefühl haben, Rose hätte sich den falschen Beruf ausgesucht. Dabei liebte sie es, hier im Krankenhaus zu arbeiten. Nur konnte man sich daran nach 32 Stunden, die man schlaflos verbracht hat, kaum noch erinnern.

Noch immer die Akten studierend lief sie den hellen Gang der neurologischen Abteilung des Royal Melbourne Hospital entlang. Es war eines der renommierttesten Krankenhäuser des Landes und bekannt durch seine modernen Forschungseinrichtungen, von denen Rose bisher nur wenig sehen durfte. Seit etwa 2 Monaten war sie bereits hier, um vielleicht irgendwann einmal dem Traum einer Neurochirurgin einen Schritt näher zu kommen.

Irgendwann einmal.

Als sie den Namen ihres nächsten Patienten las, besserte sich ihre Laune sofort. Sie hörte die Musik schon, bevor sie das Krankenzimmer überhaupt betrat.

"Hey Ben."

Lächelnd legte sie die Dokumente auf die kleine Ablage des Krankenbettes und trat neben das Bett.

"Hey Rose." Seine Stimme klang ein wenig brüchig und rau, als wäre er gerade erst aufgewacht. Würde ein Fremder Ben betrachten, ohne zu wissen warum er hier auf der Station lag, könnte er vermutlich nichts feststellen.

"Wie geht es dir? Hast du Schmerzen?", fragte sie während sie aufstand und die Bettdecke an seinen Füßen zurückschlug. "Es war schon mal besser, aber ich kann es dir nicht beschreiben. Es ist, als würde man mich dauerhaft mit kleinen Nadeln stechen."

Rose nickte und fuhr mit einem kleinen Hammer seine Fußballen und Waden entlang. "Spürst du das?" Er sah sie nicht an, während er stumm den Kopf schüttelte. Sie konnte, sie durfte es sich nicht anmerken lassen wie sehr sich ihr Herz dabei zusammenzog, während sie ihn wieder zudeckte und sich neben ihn auf das Bett setzte. Mit ihrer zarten, langgliedrigen Hand umfasste sie die Seine. "Kannst du versuchen, meine Hand zu drücken?" Es war eine Art Ritual von ihnen geworden, dass, auch wenn sie keinen Druck spürte, seine Hand nicht losließ.

Sie erinnerte  sich an den Tag, an dem er mit dem Krankenwagen hierhergebracht wurde. Es war zugleich auch ihr erster Arbeitstag gewesen. Damals war er nur ein 24-jähriger Sportler gewesen, der beim Paragliden schwere Wirbelsäulenverletzungen erlitten hatte und bewusstlos eingeliefert wurde. Sie war so schrecklich nervös gewesen, das erste Mal mit ihrem Mentor einen Patienten behandeln zu können. So viele Fachwörter, Behandlungsmethoden zum Thema Wirbelsäulenverletzungen schwirrten ihr in diesen Augenblicken im Kopf herum, während sie half seine Krankentrage in ein Behandlungzimmer zu rollen.

how to save a life. l. h.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt