Regenprasseln - Epilog

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Seit fünf Tagen nun tobte der Wind; pfiff und trieb den Regen in Raserei an, verwandelte jeden einzelnen Tropfen in einen kleinen Stein.

Aber das störte die Vampirin nicht. Sie saß auf der Balustrade des jahrhundertealten, bröckeligen Balkons und schaute in die Dämmerung hinaus, während das Regenprasseln auf sie niederging. Sie schaute in die Tiefe unter sich; das weit aufgerissene Maul eines Untieres. Dabei war sie sich vollkommen bewusst, dass sie, wäre sie noch ein normaler Mensch, in den sicheren Tod gestürzt wäre, denn der poröse Balkon war schon lange nicht mehr in der Lage, das Gewicht eines Menschen zu tragen.
Sie atmete flach und ließ die Atmosphäre des anbrechenden Tages auf sich wirken. Nicht mehr lange und der Regen würde nachlassen, die Wolken auseinander reißen und die aufgehende Sonne die Farben der Nacht vom Firmament vertreiben.

Es gab Tage, da bot die regengefüllte Wolkendecke genug Schutz, um etwas länger zu verweilen als gewöhnlich und dem Aufgehen der Sonne zuzuschauen, ohne Schwäche und Schmerz zu erliegen. Das Schauspiel war stets das gleiche: Auf tiefstes Schwarz folgte ein sattes Dunkelblau, immer heller werdend, bis ein seichtes Grau den wolkenverhangenen Himmel schmücken würde. Manchmal sehnte sich die Vampirin noch nach der Wärme der Sonne, nach dem Farbenspiel aus Gelb, orange, rosé und rot. Es war lange her, dass sie es es das letzte Mal in voller Pracht gesehen hatte. Immer wieder hatte sie es nach ihrer Erhebung versucht; die Erinnerung daran war lebendig, wie der Schmerz, den es bereitet hatte. Es hatte Narben hinterlassen, äußerlich wie innerlich.

Es gab Dinge, die ließen sich nicht ändern. Nicht mehr.

Der Regen wurde feiner, bis er schließlich gänzlich verebbte und Leben in die Umgebung zurückkehrte. Die Vampirin schloss die Augen und ließ ihre Sinne wandern: Durch den kleinen Schlossgarten genau vor ihr lief ein Reh, fing schließlich an zu grasen; die Blätter des Apfelbaums raschelten im auffrischenden Wind und das Reh horchte auf, als einer der überreifen Äpfel vom Baum fiel. Schräg hinter der Vampirin ließen sich zwei Raben auf den Zinnen nieder und begrüßten den Morgen mit ihrem Krächzen, eine Grille zirpte an der mit wildem Wein bedeckten Burgmauer ein Stück entfernt. Weinbergschnecken krochen aus den Ritzen und dem Laub des letzten Herbstes hervor und labten sich an den dunklen Erdbeeren am Boden, während Schmetterlinge zu einem nahegelegenen Ginsterbusch flogen, der einen süßlichen Geruch verströmte, der schwach aber beständig zu ihr herüber getragen wurde.

Der Wind brauste immer wieder auf, kam aus Westen und trieb die Regenwolken langsam aber beständig auseinander. Es würde ein schöner Morgen werden.  

Verblassendes LichtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt