Der Priester ging den schmalen Flur entlang. Das Haus bestand nur aus Holz, war spartanisch eingerichtet und teils marode; in der Decke über ihm klaffte ein Loch und erlaubte einen ungehinderten Blick in die Etage darüber. Die Frau, der er durch das Haus folgte, blieb vor der Tür am Ende des Ganges stehen. Kurz trafen sich ihre Blicke; das Gesicht der Frau war gezeichnet, gleichermaßen vom Alter, der harten, täglichen Arbeit und der Trauer und Sorge, die sie seit Wochen verspüren musste.
»Und Ihr seid euch sicher?«, fragte sie ungläubig.
Der Priester nickte und hielt ihr die geöffnete Hand hin. Sie seufzte und legte einen schweren, eisernen Schlüssel hinein. Die Tür zum Zimmer schabte über die Dielen, als die Frau sie aufschob. Sie warf einen kurzen, betrübten Blick in das angrenzende Zimmer, dann machte sie Platz und ließ den Priester passieren.
Er nickte ihr nochmals kurz zu, bevor sie die Tür hinter ihm schloss. Nun war er alleine in dem kleinen Zimmer, alleine mit ihm –
Kurz nahm der Priester die Beschaffenheit der Umgebung in sich auf: Ihm gegenüber befand sich ein einfaches Bett, dessen Laken schmutzig waren. Linker Hand stand eine kleine Kommode mit Schubladen, auf der eine Öllampe brannte; das einzige Licht im Raum. Die grauen Vorhänge vor dem Fenster waren zugezogen, der Windhauch, der immer wieder hinein kam, bewegte den schweren Stoff kaum wahrnehmbar. Dafür war der Geruch in dem Zimmer umso intensiver: Eine Mischung aus modrigem Holz, rostigem Metall, Kot und nassem Fell. Auch das offenstehende Fenster konnte daran nichts ändern. Die Temperatur im Raum war eisig und machte seinen Atem sichtbar.
Ein lautes, gleichmäßiges Atmen erfüllte die Stille. Der Blick des Priesters wanderte in die Zimmerecke aus der das Geräusch kam, vorbei an Schüsseln mit Essensresten, blutigen Bandagen und verschmierten Exkrementen auf den Holzdielen, nur notdürftig überdeckt mit einer dünnen Schicht Stroh.
Der Junge war angekettet, seine Familie hatte sich nicht anders zu helfen gewusst. Massive Ringe aus Metall lagen um seine Handgelenke, hatten die Haut darunter im Laufe der letzten Tage blutig geschunden, die Ketten daran waren gerade lang genug, dass sich der Junge selbst kratzen, aber sich kaum vom Platz bewegen konnte und waren in der Ecke mit einem großen Metallhaken im Boden verankert.
Der Junge war schmächtig und gerade dabei dem Kindesalter zu entwachsen; das Haar zerzaust, der Ansatz eines ersten Bartwuchs erkennbar, die Hose mittlerweile zu kurz für seine langen Beine, die Füße nackt, das Hemd zerrissen und braun vor getrocknetem Blut.»Deine Mutter sagte mir, Du bist noch in der Lage zu sprechen?«, fragte der Priester mit ruhiger Stimme.
Der Blick des Jungen traf ihn und der Priester war erstaunt über die Menschlichkeit, die darin noch lag.
Ein Junge; er war doch nur ein Junge. Der Priester ging eine Schritt auf den Jungen zu. Der zuckte zurück, Stroh raschelte unter ihm, die Ketten rasselten auf Holz. »Bleibt weg!«, sagte er mit kehliger Stimme.
Der Priester kniete sich nieder und schaute ihm genau in die Augen. Einige Momente hielt der Junge stand, der Priester konnte die animalische Aura in seinen Augen sehen, die Provokation und Dominanz, die sie ausstrahlte. Doch dann verschwand es so plötzlich, wie es aufgeflammt war und der Junge wandte seinen Blick zu Boden. »Hör«, sagte der Priester behutsam, »das, was Dir gerade widerfährt, ist schrecklich -«
»- Woher wollt Ihr das wissen?«, preschte es aus dem Jungen heraus. Da war sie wieder, die Dominanz, die Wut, die ungezügelte Kraft des Tieres.
Der Priester hob die Hände: »Ich weiß es. Genauso, wie ich weiß, dass Du diese Menschen nicht mit Absicht getötet hast. Du warst nicht Herr deiner Selbst.«
Der Junge schaute ihn an, erwiderte nichts. »Du bist nicht besessen. Du bist nicht verflucht. Du leidest an einer Krankheit«, erklärte der Priester. »Eine Krankheit, für die es eine Heilung gibt.«
»Das ist dem Dorf gleich. Sie wollen mich tot sehen. Das Urteil ist bereits gesprochen. Morgen früh werden sie kommen und mich hinrichten. Sie haben zu große Angst vor dem, was aus mir wird. Immer wieder.«
»Ich habe keine Angst vor Dir«, entgegnete der Priester ruhig und meinte es auch genau so.
Dem Jungen huschte ein höhnisch Lächeln übers Gesicht. »Du glaubst mir nicht?«, fragte der Priester. Der Junge antwortete nicht.
»Nun, wie wäre es, wenn ich Dir die Ketten abnehme und wir gehen?«
Der Junge schaute ihn an; die Ungläubigkeit in seinem Blick sprach Bände: »Ich bin ein Monster. Ich gehe nirgendwo hin. Auf mich wartet mein Urteil. Das habe ich verdient.«
- Das habe ich verdient -
Der letzte Satz des Jungen hallte noch nach, als das dumpfe Tropfen von Wasser den Priester weckte. Die aufgehende Sonne überschritt gerade den untersten Rand des Bogenfensters, das sich an der Wand ihm gegenüber befand; warmes Sonnenlicht berührte seine Wange. Hätte das monotone Tropfen des Wasser ihn nicht geweckt, die aufgehende Sonne hätte es sicherlich getan.
Der Priester schaute neben sich: Der Junge lang ein paar Meter entfernt von ihm; eingerollt, das Fell glänzend im aufgehenden Sonnenlicht. Sein gewaltiger Brustkorb senkte sich rhythmisch auf und ab während er schlief, das tiefe, brummende Geräusch seiner Atmung lag in der fast geräuschlosen Umgebung und hatte wie immer etwas Beruhigendes. Eine seiner Pfoten zitterte, die Lefzen zuckten und gaben kurz die Sicht frei auf seine gigantischen Reißzähne. Manchmal fragte sich der Priester, was der Junge wohl träumen mochte.
Die Träume des Priesters drehten sich seit der magischen Verbindung mit dem Jungen nur noch um ihn, so als würde sein schlechtes Gewissen ihn jede mögliche Sekunde daran erinnern wollen, dass er sein Versprechen gebrochen hatte; dass er versagt hatte.
Die druidische Runenmagie hatte die Verwandlung des Jungen zwar verlangsamt, doch geheilt hatte sie ihn nicht. Und umso mehr der tierische Teil in ihm die Oberhand übernahm, umso schwerer wurde es, die Verbindung aufrecht zu halten, die Kontrolle über den Zauber nicht zu verlieren.
Es verging kein Abend, an dem der Priester keine Angst hatte, Angst davor, am nächsten Morgen aufzuwachen und über Nacht die Verbindung verloren zu haben; aufzuwachen und einer wilden Bestie gegenüberzustehen, für die es nur einen Daseinszweck gab – Verheerung.Vielleicht war das die gerechte Strafe, die gerechte Strafe dafür, dass er dem Jungen und seiner Familie Heilung versprochen hatte, die es nicht gab.
Vielleicht habe ich das verdient, dachte der Priester – Und so begleiteten ihn die Sorgen und die Schuldgefühle über die ausweglose Lage auch über den Traum hinaus in den Tag; jede mögliche Sekunde, in der Tat.Wieder zuckte der Junge. Ja, manchmal fragte sich der Priester, was der Junge wohl träumen mochte, oder ob er überhaupt noch träumen konnte. Eine Antwort würde er nicht erhalten, dazu war es zu spät.
Die Strahlen der Sonne wurden kräftiger und wärmer und beschienen immer größere Flächen seines Fells; die Nacht war vorbei. Tagesanbruch und der Wolf wachte auf.
![](https://img.wattpad.com/cover/343852608-288-k396806.jpg)
DU LIEST GERADE
Verblassendes Licht
FantasyIn einer Welt, in der ein Krieg die letzte noch vorhandene Menschlichkeit verzehrt, beherrschen Gewalt, Hunger und Angst das tägliche Leben - Frauen werden als Hexen auf dem Scheiterhaufen verbrannt oder samt ihrer Kinder an den Pfahl gestellt, währ...