Sam blickt nach unten, fängt zu lachen an. »Was ist daran so lustig?«, frage ich. Da greift er nach meiner Hand, zieht die Kirschblüte von meinem Handgelenk und faltet sie auseinander.
Ich will dagegen protestieren, aber er hält bereits das aufgefaltete Blatt in der Hand. Und auf dem Papier sind sein Name und seine Telefonnummer zu lesen.
»Das hätte ich mich nie getraut ...«, stammle ich.
»Wahrscheinlich mein Fehler.«
Wir müssen beide lachen. Dann blicke ich ihn traurig an.
»Was ist los?«, fragt Sam.
»Jetzt ist die Blüte kaputt.«
Alles, was davon noch übrig ist, ist ein vom Regen durchweichtes Blatt Papier.
»Keine Sorge«, sagt Sam. »Ich kann dir wieder eine falten. Ich kann dir tausend Kirschblüten falten.«
Ich lege meine Arme wieder um ihn und aneinanderge-schmiegt tanzen wir auf dem Parkplatz weiter, die Musik dringt gedämpft durch die halb geöffnete Tür der Turnhalle zu uns nach draußen, der Regen um uns wird dichter, hüllt uns ein wie Nebel, bis die Wolken sich verziehen und die Sterne am Nachthimmel leuchten und die Erinnerungsszene wieder wechselt.
Aus dem Schlafzimmerfenster meiner Eltern segeln Kleidungsstücke auf den Rasen vor dem Haus. Meine Eltern haben sich bei einem nächtlichen Streit eine Stunde lang angeschrien und ich halte es nicht mehr aus. Ich wusste immer, dass es irgendwann so enden würde, aber ich hatte nicht erwartet, dass es so bald sein würde. Wohin soll ich denn jetzt? Ich habe Sam gebeten, mich zu holen, aber er ist noch nicht da. Ich stehe vorne an der Straße und spüre, wie die Nachbarn mich von ihren Fenstern aus beobachten. Ich kann nicht mehr länger hier herumstehen und auf ihn warten. Ich biege um die nächste Ecke und fange an zu rennen. Ich renne, bis alles hinter mir verschwunden ist.
Ich weiß nicht einmal, wohin ich renne. Ich renne so lange, bis mir nichts mehr bekannt vorkommt. Erst als ich schon am Stadtrand bin, dort, wo sich Weideland und Felder bis zu den fernen Bergen erstrecken, merke ich, dass ich mein Handy vergessen habe. Scheinwerfer tauchen hinter mir auf und beleuchten die leere Straße. Ich trete zur Seite, um das Auto vorbeizulassen, da bremst es ab und kommt neben mir zum Stehen. Es ist Sam.
»Alles in Ordnung?«, fragt er, als ich einsteige. »Ich bin bei dir zu Hause vorbei, aber du warst nicht da.«
Wenn ich mein Handy dabeigehabt hätte, hätte ich ihm meine Koordinaten schicken können. »Woher hast du gewusst, dass ich hier entlanglaufe?«
»Hab ich nicht ... Ich hab einfach überall nach dir gesucht.«
Schweigend sitzen wir eine ganze Weile nebeneinander.
»Willst du, dass ich dich wieder nach Hause fahre?«, fragt Sam schließlich.
»Nein.«
»Wohin willst du dann?«
»Irgendwohin.«
Sam fährt los. Wir fahren kreuz und quer durch die Stadt, bis wir jedes Zeitgefühl verloren haben. Die Lichter in den Geschäf ten gehen nacheinander alle aus und Dunkelheit senkt sich über die Straßen. Als wir nicht mehr weiterfahren wollen, biegt Sam auf den Parkplatz eines Tag und Nacht geöffneten Minimart ein und stellt den Motor ab. Er fragt mich nicht, was zu Hause passiert ist. Er sitzt einfach nur ruhig neben mir, während ich den Kopf gegen das Seitenfenster lehne und die Augen schließe.
Das Letzte, woran ich mich erinnere, bevor ich einschlafe, ist die Leuchtschrift des Minimart-Zeichens. Und Sam, wie er seine Jeansjacke über mich breitet.
Ich wache auf einer Wiese auf. Es ist Abend und alles ist in goldenes Licht getaucht. Sonnenlicht wärmt mir die Wangen, während ich mich aufsetze und mich umschaue. Die Bäume sind mit unzähligen handgefalteten Papierblüten geschmückt, sie hängen an langen Schnüren herab, die in der leichten Brise wie die Zweige einer Trauerweide sanft schaukeln. Ich bemerke, dass ein Pfad aus Blütenblättern von mir fort in die Ferne führt, an einen Ort, von dem Gitarrenklänge zu mir dringen. Ich folge den Klängen, schreite durch einen Vorhang aus Papierblüten und weiß dann, wo ich bin. An unserem geheimen Platz am See.
Dort, wo wir uns so oft getroffen haben. Als ich zwischen den Bäumen heraustrete, spiegelt sich das Licht der untergehenden Sonne im See. Der Strahl zeigt direkt auf mich. Sam erwartet mich am Ufer.
»Julie -«, ruft Sam und setzt die Gitarre ab. »Ich war mir nicht sicher, ob du kommen würdest ...«
»Und ich war mir nicht sicher, ob du hier sein würdest«, sage ich.
Er nimmt meine Hände. »Ich werde immer für dich da sein,
Jules.«
Ich antworte darauf nichts. Nicht jetzt, nicht in diesem Augen-blick.
Wir sitzen am Ufer und schauen aufs Wasser hinaus. Wolken ziehen langsam über den rosarot gefärbten Himmel. Manchmal wünsche ich mir, die Sonne würde nie untergehen. Wir könnten für immer hierbleiben, uns freuen, dass wir zusammen sind, miteinander reden wie immer, über Scherze lachen, die nur uns gehören, so tun, als könnte nie etwas Schlimmes passieren. Ich schaue Sam an, nehme sein Gesicht in mich auf, sein wunderschönes Lächeln, seine schwarzen Haare, die ihm schräg in die Stirn fallen, seine braun gebrannte Haut, und ich wünsche mir, ich könnte diesen Moment einfrieren und für immer festhalten.
Aber das kann ich nicht. Selbst im Traum kann ich die Zeit nicht anhalten. Die Wolkendecke über uns wird immer dichter und schwärzer und die Erde unter uns fängt leicht zu beben an. Sam muss es auch bemerkt haben, denn er springt auf.
Ich fasse nach seiner Hand. »Geh noch nicht.«
Wenn man sich auf die Liebe einlasst, setzt man alles aufs Spiel... ohneAngst! Wenn du gewinnst, sei glücklich und wenn du verlierst, ist das Spiel noch lange nicht aus.
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Bleib bei mir Sam
Любовные романыDie siebzehnjährige Julie hat ihre Zukunft perfekt geplant - endlich raus aus dem kleinen Ort, mit ihrem Freund Sam in die Stadt ziehen und studieren, den Sommer in Japan verbringen. Aber dann stirbt Sam. Und alles ist anders.Julie ist am Boden zers...