Das Treffen mit Mika

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»Du musst dich nicht von allem trennen«, sagt sie. »Behalte doch ein paar Erinnerungsstücke an ihn.«
»Nein«, sage ich. »Ich brauche das alles nicht mehr.«
Meine Mutter macht einen Schritt zurück. »Wie du meinst.
Ich will mich da nicht einmischen.«
»Ich muss jetzt los. Bis später!«
Ich gehe durch die Garage nach draußen. Vorne an der Straße lasse ich die Schachtel mit Sams Sachen zwischen den Briefkasten und die Abfalltonne fallen. Sie macht beim Aufprall ein klapperndes Geräusch wie Münzen oder Knochen. Der Deckel ist verrutscht, und ein Ärmel von Sams Jeansjacke hängt heraus, als würde ein Gespenst hervorkriechen wollen. Ich richte mich auf und mache mich auf den Weg in die Stadt. Das erste Mal seit Tagen scheint mir die Sonne ins Gesicht.
Ich bin schon fast an der nächsten Kreuzung, als ein Windstoß mir Blätter vor die Füße weht. Unsicher verlangsame ich meine Schritte. Ein seltsamer Gedanke kommt mir. Wenn ich mich jetzt umdrehe - steht er dann vielleicht vor unserem Haus, zieht die jeans-jacke heraus und starrt auf den Rest seiner Sachen? Ich stelle mir den Ausdruck auf seinem Gesicht vor und was er wohl dazu sagen würde. Dann überquere ich die Straße und setze meinen Weg fort, ohne mich umzudrehen.
Trotz der Sonne fühlt sich die Luft frisch an. Ellensburg liegt an der Ostseite des Kaskadengebirges, deshalb bläst immer mal wieder kalte Hochgebirgsluft durch unsere Straßen. Die Stadt ist klein, mit vielen historischen Backsteingebäuden und viel freier Fläche. Es ist ein Ort, an dem nie etwas Aufregendes passiert. Vor drei Jahren bin ich mit meinen Eltern aus Seattle hierhergezo-gen, als meine Mutter den Lehrauftrag an der Central Washington University bekam. Als daraus später eine Vollzeitstelle wurde, sind nur sie und ich geblieben. Dad ist wieder zurück nach Seattle in seinen alten Job und hat es keine Sekunde bereut. Ich habe ihm nie Vorwürfe gemacht, dass er es in Ellensburg nicht aus gehalten hat. Er hat einfach nicht hierhergehört. Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich auch nicht wirklich hierhergehöre.
Meine Mutter nennt Ellensburg eine Stadt aus einer anderen Zeit, die noch nicht ganz in der Gegenwart angekommen ist.
Modernes Großstadtleben gibt es hier jedenfalls nicht. Obwohl ich es kaum erwarten kann, von hier wieder wegzuziehen, muss ich zugeben, dass der Ort seinen eigenen Charme hat.
Als ich in die Stadtmitte komme, fällt mir auf, wie viel sich innerhalb einer Woche verändert hat. Es ist Frühling gewor-den. Blumenkörbe hängen unter den Straßenlampen. Entlang der Hauptstraße sind für den wöchentlichen Bauernmarkt weiße Zelte aufgebaut. Ich biege in eine Nebenstraße ein, um das Gedränge zu vermeiden. Ich habe keine Lust darauf, jemandem zu begegnen. Normalerweise macht es Spaß, durch das Zentrum von Ellensburg zu spazieren. Aber alle Straßenecken erinnern mich jetzt an ihn. Hier hat Sam auf mich gewartet, bis ich mit meiner Schicht in der Buchhandlung fertig war. Hier haben wir am Marktstand immer Falafel gekauft. Hier haben wir im Kino sonntags Filme geguckt, die Vorstellung für fünf Dollar, und sind danach Händchen haltend nach Hause gegangen. Mir ist, als müsste er hinter der nächsten Straßenecke auf mich warten. Mein Herz fängt zu rasen an. Vielleicht sollte ich besser umkehren. Aber hinter der Straßenecke steht nur eine Frau, in ein Telefongespräch versun-ken. Sie bemerkt nicht einmal, dass ich an ihr vorbeigehe.
Meine Freundin Mika und ich haben uns am anderen Ende der Stadt auf einen Kaffee verabredet. In der Stadtmitte gibt es Coffee-shops in Hülle und Fülle, aber ich habe ihr gestern Abend getextet, dass ich auf keinen Fall jemandem über den Weg laufen will, den ich kenne. Sie hat geantwortet: Geht mir genauso. In dem altmodischen Diner suche ich einen Tisch an der Fensterseite aus, in der Nähe eines alten Ehepaars, das gerade die Speisekarte studiert. Als die Bedienung kommt, bestelle ich eine Tasse Kaffee, ohne Milch und Zucker. Normalerweise trinke ich meinen Kaffee immer mit Milch, aber ich gewöhne mir gerade an, ihn schwarz zu trinken.
Irgendwo im Internet habe ich gelesen, dass das wie bei Wein ist.
Man muss sich an den Geschmack gewöhnen.
Ich habe erst ein paar Schluck getrunken, als die Glöckchen an der Eingangstür bimmeln und Mika hereinkommt. Suchend blickt sie sich nach mir um. Sie trägt eine schwarze Strickjacke und ein schwarzes Kleid, das ich noch nie an ihr gesehen habe.
Sie sieht besser aus, als ich erwartet hätte. Mom hat mir erzählt, dass sie auf Sams Beerdigung eine Rede gehalten hat. Mika ist seine Cousine. Wir haben uns über ihn kennengelernt. Sam hat uns auf einer Party vorgestellt, kurz nachdem ich hergezogen bin.
Seither sind wir eng miteinander befreundet.
Als Mika mich entdeckt hat, steuert sie auf meinen Tisch zu und setzt sich mir gegenüber auf die rote Plastiklederbank.
Sie legt ihr Handy auf den Tisch und schubst ihren Rucksack darunter. Die Bedienung erscheint, stellt, ohne zu fragen, eine zweite Tasse vor sie hin und schenkt ihr Kaffee ein.
»Extra Zucker und Milch wäre großartig«, bittet Mika.
»Okay«, sagt die Bedienung.
Mika hält die Hand hoch. »Haben Sie vielleicht auch Soja-milch?«
»Sojamilch? Nein.«
»Oh.« Mika runzelt die Stirn. »Na gut, dann normale Milch.«
Kaum hat die Bedienung sich umgedreht, sieht Mika mich streng an. »Du hast mir nicht mehr geantwortet. Ich war nicht sicher, ob du wirklich kommst.«
»Tut mir leid. Ich antworte gerade nicht besonders oft auf Nachrichten.« Eine andere Entschuldigung dafür habe ich nicht. Tatsächlich habe ich mir angewöhnt, das Handy oft auf stumm zu schalten. Aber diese Woche war natürlich alles noch mal anders, da wollte ich mit der Welt nichts mehr zu tun haben.
»Ja, schon klar«, sagt sie und runzelt wieder leicht die Stirn.
»Aber ich habe tatsächlich kurz geglaubt, dass du vielleicht nicht kommst und mir nur nicht abgesagt hast. Du weißt, dass ich so was nicht mag.«
»Dafür war ich besonders pünktlich da.«
Wir lächeln beide. Ich trinke einen Schluck von meinem schwarzen Kaffee.
Mika nimmt meine Hand. »Ich hab dich so vermisst«, flüstert sie.
»Ich dich auch.« Auch wenn ich gerade am liebsten nur noch allein sein will, freue ich mich sehr, Mika zu sehen. Es tut gut, ein vertrautes Gesicht zu sehen.
Die Bedienung kommt, stellt Milch auf den Tisch, holt ein paar Päckchen Zucker aus der Schürze und verschwindet wieder.
Mika reißt drei davon auf und schüttet Zucker in ihren Kaffee.
Dann greift sie nach dem Kännchen, hält es mir hin und fragt:
»Milch?«
Ich schüttele den Kopf.
»Weil sie keine Sojamilch haben?«
»Nein ... ich gewöhne mir gerade an, den Kaffee schwarz zu trinken.«
»Hmm. Beeindruckend.« Sie nickt. »Sehr stylish von dir. Seat-tle-mäßig.«
Mikas Handy leuchtet auf und meldet neue Nachrichten.
Gleichzeitig fängt es zu vibrieren an. Mika schaut auf das Display, dann zu mir. »Ich steck das Ding besser mal weg«, sagt sie, lässt das Handy in ihrem Rucksack verschwinden und greift nach der Speisekarte. »Hast du was bestellt?«
»Nein, ich hab keinen Hunger.«
»Oh, okay.«
Sie legt die Speisekarte wieder auf den Tisch. Verschränkt die Finger ineinander, während ich einen weiteren Schluck Kaffee trinke. Die Jukebox blinkt mit orangefarbenen und blauen Lichtern zu uns herüber, aber es spielt keine Musik. Zwischen uns macht sich Schweigen breit, bis Mika schließlich die Frage stellt:

Eine Freundschaft zwischen Jungs und Mädchen kann nicht funktionieren,da bei Mädchen irgendwann die Liebe dazwischen kommt!

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Eine Freundschaft zwischen Jungs und Mädchen kann nicht funktionieren,
da bei Mädchen irgendwann die Liebe dazwischen kommt!

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