Meine Haare sind total zerzaust, ich bin noch blasser als sonst, habe seit Tagen dasselbe T-Shirt an und klammere mich an Sams Jacke, als könnte ich ihn dadurch wieder zum Leben erwecken.
Ein Gefühl von Scham und Verlegenheit durchflutet mich und ich blicke hastig weg. Die Jacke zu behalten, wäre ein Fehler. Ich muss mich von allem befreien, sonst werde ich nie nach vorne schauen und weiterleben können. Ich mache die Schranktür zu und gehe schnell aus dem Zimmer, bevor ich meine Meinung andere.
Drunten in der Küche spült meine Mutter gerade ab und schaut dabei aus dem Fenster. Es ist Sonntagvormittag, deshalb ist sie ausnahmsweise noch nicht in ihrem Büro. Wie immer knarzt die letzte Treppenstufe, als ich drauftrete.
»Julie?«, fragt meine Mutter, ohne sich umzudrehen.
»Ich bin's. Kein Grund zur Sorge.« Ich hatte eigentlich vor, die Schachtel unbemerkt an ihr vorbeizuschmuggeln. Ich habe keine Lust, mit ihr darüber ein Gespräch anzufangen. »Was ist da draußen?«
»Wieder mal Dave«, flüstert sie und späht weiter hinaus. »Ich habe ihn dabei beobachtet, wie er vor seinem Haus neue Über-wachungskameras installiert hat.«
»Oh.«
»Genau, wie ich es mir gedacht habe.«
Unser Nachbar Dave wohnt seit sechs Monaten hier. Aus irgendeinem Grund glaubt Mom, dass er ins Nebenhaus gezogen ist, um uns zu überwachen. Seit sie vor ein paar Jahren von offizieller Stelle einen Brief erhielt, dessen Inhalt sie mir nicht mitteilen will, hat meine Mutter solche paranoiden Gedanken.
»Besser, du weißt nicht, was drinsteht«, sagte sie damals zu mir.
Ich glaube, es hat mit der Vorlesung zu tun, die sie damals an ihrer alten Uni gehalten hat. Es kam daraufhin zu Krawallen.
Studierende sollen in Gruppen über den Campus gezogen sein und an allen Wänden die Uhren zertrümmert haben. Wogegen sich der Protest richtete? Ganz allgemein gegen den Begriff der Zeit. Zu Moms Verteidigung muss angeführt werden, dass die Studierenden, wie sie sagt, »das alles falsch verstanden haben«.
Die Universität beschloss jedenfalls danach, dass »ihr Unter-richtsstil zu radikal« sei. Man hat ihr gekündigt. Mom ist über-zeugt, dass über den Vorfall ein Bericht verfasst und an die Regierung geschickt wurde. »Hemingway ist dasselbe passiert«, erzählt sie jedes Mal. »Aber keiner hat ihm glauben wollen. Faszinierende Geschichte. Solltest du mal googeln.«
»Letzte Woche soll bei ihm in die Garage eingebrochen worden sein«, sage ich. »Wahrscheinlich bringt er deshalb die Kame-
ras an.«
»Merkwürdiger Zufall«, sagt meine Mutter. »Wir leben hier - wie lange? Fast drei Jahre? Und nie ist bei uns in dieser Zeit irgendetwas gestohlen worden, nicht einmal ein Gartenzwerg.«
Die Schachtel fühlt sich allmählich etwas schwer an. »Mom, wir hatten noch nie einen Gartenzwerg«, sage ich. Zum Glück.
»Und wir sammeln auch keine alten Sportwagen.«
»Auf wessen Seite stehst du eigentlich?«
»Auf unserer natürlich«, verkünde ich. »Sag mir, wie ich ihn außer Gefecht setzen soll, und ich tu's.«
Meine Mutter dreht sich zu mir und seufzt. »Hab's kapiert ... ich leide unter einer paranoiden Persönlichkeitsstörung.« Sie atmet tief ein und wieder aus, wie ihre Yogalehrerin es ihr beigebracht hat, dann blickt sie zu mir. »Wie auch immer, ich bin froh, dass du aufgestanden bist«, sagt sie. Ihr Blick wandert zur Uhr über dem Kühlschrank. »Ich wollte gerade los, aber ich kann dir was zum Frühstück machen, wenn du hungrig bist. Eier?« Sie tritt an den Herd.
Im Wasserkocher fängt das heiße Wasser zu sprudeln an.
Neben einer Tasse liegt ein Tütchen Instantkaffee bereit.
»Nein - ich hab keinen Hunger.«
»Wirklich nicht?«, fragt meine Mutter, die Hand bereits am Griff einer Bratpfanne. »Ich kann dir auch etwas anderes machen.
Lass mich mal nachdenken ...« Sie scheint mehr in Eile zu sein als normalerweise. Ich schiele zum Tisch und entdecke darauf einen Stapel Prüfungsarbeiten, die sie noch korrigieren muss.
Stimmt, es sind ja gerade Prüfungen an der Central Washington University hier in der Stadt, an der sie unterrichtet. Sie ist Assis-tenzprofessorin im Philosophie-Department. Nach dem Zwi-schenfall, wie wir nur noch sagen, war es eine der wenigen Unis, die sie zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen haben. Zum Glück hat einer ihrer alten Kollegen hier eine Professur. Er hat sich für sie verbürgt. Ein Fehler von ihr und sie können beide ihren Job verlieren.
»Danke, aber ich hab was vor«, sage ich, werfe mehrmals einen Blick auf die Uhr und tue so, als ob ich in Eile wäre. Je länger ich stehen bleibe, desto mehr Fragen kann sie mir stellen.
»Was hast du denn vor?«, fragt Mom. Sie stellt den Wasserkocher aus und wischt sich die Hände an einem Geschirrtuch ab.
»Nur einen kleinen Spaziergang.«
»Ach so ... Okay. Ich meine, großartig.« In der vergangenen Woche hat meine Mutter mir dreimal am Tag Essen ins Zimmer gebracht und in regelmäßigen Abständen besorgt den Kopf durch die Tür gesteckt. Kein Wunder, dass sie zögerlich und unsicher klingt.
»Ich treffe mich mit jemand.«
»Wunderbar.« Meine Mutter nickt. »Etwas raus an die frische Luft, irgendwo einen Kaffee trinken. Deine Freundinnen zu sehen, wird dir guttun. Ach ja, übrigens - hast du mit Mr Lee von der Buchhandlung gesprochen?«
»Noch nicht ...« Ich habe seither mit niemandem gesprochen.
»Schau doch mal bei ihm vorbei, wenn du magst. Oder melde dich kurz bei ihm. Er hat ein paarmal auf den AB gesprochen.«
»Ich weiß-«
»Ein paar Lehrer von dir auch.«Ich greife zusätzlich zur Schachtel noch nach meiner Tasche.
»Beruhige dich, Mom. Ich rede am Montag mit ihnen.«
»Heißt das, dass du nächste Woche wieder in die Schule willst?«
»Bleibt mir nichts anderes übrig«, sage ich. »Wenn ich noch eine Woche fehle, lassen sie mich nicht zur Abschlussprüfung zu.« Ganz zu schweigen von den Hausaufgaben, die sich bei mir stapeln, und dem Stoff, den ich nachholen muss. Ich muss wieder in die Spur kommen und mich auf die Schule konzentrieren.
Was soll ich sonst tun? Die Welt dreht sich weiter, egal, was passiert.
»Mach dir mal deswegen keine Sorgen, Julie«, sagt meine Mutter. »Sie werden verstehen, wenn du noch Zeit brauchst. Weißt du, was? Ich rufe gleich mal an.« Sie dreht sich suchend um die eigene Achse. »Wo hab ich dieses Ding nur ...«
Ihr Handy liegt auf dem Küchentisch. Als sie danach greifen will, stelle ich mich ihr in den Weg.
»Mom, es geht mir gut.«
»Aber, Julie, es -«
»Bitte.«
»Bist du dir auch sicher?«
»Ja, Mom. Bei mir ist alles gut, okay? Du musst niemand anru-fen.« Ich will nicht, dass sie sich um mich Sorgen macht. Ich komme schon allein klar.
»Na gut«, seufzt meine Mutter. »Wie du meinst.« Sie streicht mir über die Wange und versucht zu lächeln. Wir schauen uns an. Dann fällt ihr Blick auf die Schachtel. »Und was ist da drin?« So viel zu der Hoffnung, dass sie nichts bemerken würde.
»Nichts weiter. Ich hab nur in meinem Zimmer aufgeräumt.«
Ohne mich zu fragen, hebt sie den Deckel hoch und wirft einen Blick auf den Inhalt. Sie braucht keine Sekunde, um eins und eins zusammenzuzählen. »Oh ... Julie, willst du das wirklich tun? Bist du dir ganz sicher?«
»Das ist wirklich keine große Sache ...«Du wirst einen Zeitpunkt in deinem Leben haben, wo du entscheiden musst, ob ein neues Kapitel beginnen soll oder das Buch endet.
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Bleib bei mir Sam
RomanceDie siebzehnjährige Julie hat ihre Zukunft perfekt geplant - endlich raus aus dem kleinen Ort, mit ihrem Freund Sam in die Stadt ziehen und studieren, den Sommer in Japan verbringen. Aber dann stirbt Sam. Und alles ist anders.Julie ist am Boden zers...