Die siebzehnjährige Julie hat ihre Zukunft perfekt geplant - endlich raus aus dem kleinen Ort, mit ihrem Freund Sam in die Stadt ziehen und studieren, den Sommer in Japan verbringen. Aber dann stirbt Sam. Und alles ist anders.Julie ist am Boden zers...
»Willst du mit mir darüber reden?« »Nein, nicht wirklich.« »Wirklich nicht? Ist das nicht der Grund, warum wir uns treffen?« »Ich wollte vor allem mal raus.« Sie nickt. »Das ist gut. Aber wie geht's dir denn so mit allem?« »Okay, glaube ich.« Mika sagt nichts. Sieht mich an, als warte sie auf mehr. »Und du, was ist mit dir?«, frage ich stattdessen. Mika starrt auf die Tischplatte. »Ich weiß es nicht«, antwortet sie schließlich. »Die Trauerrituale waren hart. Es gibt hier in der Nähe keinen buddhistischen Tempel, deshalb haben wir ver-sucht, uns so gut wie möglich zu behelfen. Bei den Zeremonien sind so viele Traditionen und Gebräuche zu beachten. Die meisten kannte ich gar nicht.« »Das ist mir alles völlig fremd ...«, sage ich. Mika und Sam haben eine viel engere Verbindung zur Kultur, aus der sie kom-men, als ich. Meine Eltern stammen beide aus Familien von irgendwoher in Nordeuropa, aber das spielt für mich überhaupt keine Rolle. Zwischen uns breitet sich wieder Stille aus. Mika rührt lange in ihrem Kaffee, ohne ein Wort zu sagen. Dann hält sie inne, als würde sie sich an etwas erinnern. »Wir haben für ihn Totenwache gehalten«, sagt sie, ohne mich dabei anzuschauen. »Am Tag danach. Ich habe die ganze Nacht bei ihm verbracht. Habe ihn noch einmal gesehen ...« Mir krampft sich bei diesem Gedanken der Magen zusam-men. Sam noch einmal zu sehen, nachdem er ... Ich verbiete mir, es mir vorzustellen. Ich trinke noch einen Schluck Kaffee und versuche, das Bild aus dem Kopf zu kriegen, aber es gelingt mir nicht. Mir wäre lieber, sie hätte mir nicht davon erzählt. »Ich weiß. Nicht viele Menschen wollten ihn in diesem Zustand noch einmal sehen«, sagt Mika, ohne mich anzuschauen. »Ich habe es auch fast nicht geschafft. Aber ich wusste, dass es die letzte Gelegenheit sein würde, noch einmal mit ihm zusammen zu sein. Deshalb bin ich hingegangen.« Ich sage nichts. Trinke meinen Kaffee. »Zur Beerdigung waren sehr viele da«, fährt sie fort. »Wir hatten gar nicht genug Sitzplätze. Leute aus der Schule, die ich nicht mal gekannt habe. Und es gab jede Menge Blumen.« »Wie schön.« »Ein paar haben nach dir gefragt«, fährt Mika fort. »Ich hab gesagt, dass es dir nicht gut geht. Und dass du dich lieber allein von ihm verabschieden willst.« »Das hättest du nicht machen müssen«, sage ich. »Ich weiß. Aber sie haben immer wieder nach dir gefragt.« »Wer?« »Spielt keine Rolle«, sagt Mika. Ich trinke den letzten Schluck meines Kaffees, der inzwischen kalt geworden ist und unangenehm bitter schmeckt. Mika schaut mich an. »Warst du bei ihm? Hast du dich von ihm verabschiedet?« Ich brauche für meine Antwort eine Weile. »Nein«, sage ich dann. »Noch nicht.« »Willst du jetzt hin?« Sie greift wieder nach meiner Hand. »Wir könnten zusammen zum Friedhof gehen.« Ich ziehe meine Hand aus ihrer. »Ich ... ich kann nicht ... nicht jetzt ...« »Warum nicht?« »Ich habe nachher noch was vor«, weiche ich aus. »Was denn?« Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll. Warum muss ich mich rechtfertigen? Mika beugt sich über den Tisch und sagt leise: »Julie, ich weiß, dass das alles schrecklich für dich ist. Für mich ist es auch schrecklich. Aber du kannst es nicht ewig aufschieben. Lass uns zusammen auf den Friedhof gehen. Erweise ihm die letzte Ehre. Jetzt erst recht.« Und flüsternd, beinahe unhörbar, fügt sie hinzu: »Bitte, es ist doch Sam ...« Die Stimme versagt ihr, als sie seinen Namen sagt. Ihr ist anzu-merken, dass sie versucht, ein Schluchzen zu unterdrücken. Sie so zu sehen, schmerzt mich tief in der Brust, und ich bringe kein Wort heraus. Ich kann nicht glauben, dass sie das gegen mich ver-wendet. Ich kann nicht mehr richtig denken. Mühsam bewahre ich die Fassung. Ich umklammere die leere Kaffeetasse. »Ich hab dir doch gesagt, dass ich nicht darüber reden möchte«, sage ich. »Was ist nur in dich gefahren, Julie?«, fragt Mika. »Sam hätte dich auch dabeihaben wollen. Du bist die ganze Woche abgetaucht. Nicht einmal zur Beerdigung warst du da.« »Und ich bin mir sicher, dass sich darüber jetzt alle das Maul zerreißen«, antworte ich. »Ist doch egal, was alle anderen sagen«, schluchzt Mika. »Was zählt, ist allein Sam.« »Sam ist tot.« Woraufhin wir beide nichts mehr sagen. Mika starrt mich an. Ihr Blick sucht in meinen Augen nach einem Anzeichen von Schuldgefühl oder Bedauern, als würde sie darauf warten, dass ich mich für meine Worte in irgendeiner Weise entschuldige. Aber alles, was ich zu ihr sagen kann, ist: »Er ist tot, Mika, und ob ich sein Grab besuche oder nicht, ändert daran überhaupt nichts.« Wir schauen einander eine gefühlte Ewigkeit an, dann wendet Mika den Blick ab. Ihrem Schweigen entnehme ich, dass sie überrascht, aber auch enttäuscht ist. Erst in diesem Moment fällt mir auf, dass um uns herum ebenfalls alle verstummt sind. Die Bedienung geht wortlos an unserem Tisch vorbei. Nach einer Weile, als wieder der normale Geräuschpegel herrscht, finde ich die Sprache wieder.
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Trotz soviel Hass auf dieser Welt, sind die Herzen voller Liebe.