Ich weiß nicht ob einfach viel mehr fremde Menschen viel cooler sind, als ich denke, oder ob einfach jeder auf eine andere Art cool ist, und ich mich schlichtweg immer sehr dafür begeistern kann, wenn ich sie kennenlerne. Oder ob irgendetwas in mir diese ganz coolen Leute immer schon erkennt und sie sich schnappt, wenn der Zufall sie vorbeifliegen lässt. Insofern man den Zufall nicht auch zufällig selbst gestaltet. Und natürlich: A. hatte in seinem Leben schon so einiges durch, malte gerne Graffiti und schenkte mir seine "Hello, my Name is:"-Sticker, und einen Marker. Natürlich, A. mochte Alltagsbeobachtungen, hatte hardcore ADHS und diese liebevolle geduldige offene, nichts erwartende, neugierige: gütige Art. ... Die Art, die Menschen dazu brachte, ihm begeistert Dinge zu erzählen. Aber er selbst war auch ein Erzähler, kein aufmersamkeitssuchender, einfach ein ehrlich begeisterter. Nichts davon brachte er selbst als Thema an, es kam zufällig auf, doch er erzählte mir von seinem Tastenhandy, seinem CD Player und seinen analogen Fotos - die er in seinem Keller selbst entwickelte.
"And it's so beautiful. Because - maybe you fuck it up and then it's all gone. I think this is the best thing about it.". Ich nickte nur, mir fiel kein bestätigender Satz ein, der es noch einmal besser hätte zusammenfassen können. Ich hoffe das Funkeln in meinen Augen tat es. Nachdem wir eine Weile geredet hatten, stand ich auf, um nach etwas zu Essen zu suchen, das Leute vielleicht nach dem Abbau loswerden wollten. Im leeren Antifa Camp fand ich sehr schnell einen Stand mit übrig gebliebenen Essen, und nach einem kurzen Austausch mit den Leuten von dem Stand wurde klar: ich und meine Freunde hatten Hunger, und die politische Organisation, der der Stand gehörte, war 300€ im Minus. Ich hätte ihnen auch so etwas gespendet, und sie hätten mir auch so das Essen gegeben. Jetzt passte es aber auch gut zusammen. Mit drei Plastikbechern voll Curry kam ich zurück und setze mich neben A. und seinen Kumpel, die sich beide sehr freuten.
Das Curry mit einer Gabel löffelnd und die aktuelle Gesellschaft in Frage stellend, ohne dabei vorwurfsvoll zu sein (das ist eine Analogie), saßen wir in unserem Nest aus unseren wenigen Sachen, die wir noch mit uns herumtrugen. Ich weiß gar nicht, wie lange wir dort saßen und ich weiß auch nicht, ob ich überhaupt auf etwas wartete und wenn ja, auf was. Doch ich tat es einfach. Es sollte eine sehr gute Entscheidung gewesen sein, auch wenn es sich in diesem Moment nicht wie eine bewusste Überlegung anfühlte.
Irgendwann legte A. sich auf den Marmorboden neben mich, um weiter zu reden, und ich fragte ihn, ob es nicht zu kalt sei. Er verneinte, doch etwas unter seinem Kopf, das wäre gemütlich. Automatisch rutschte ich weiter weg von ihm und zog meine Knie an mich - und gab ihm meine Jacke. "Oh, thank you", sagte er auf eine dankbare, aber verletzte, aber verstehend-akzeptierende und irgendwie mitfühlende Art. Mit mitfühlend ist gemeint: dieses winzige Leid teilend, welches so klein war, dass es eigentlich fast nicht existierte. (Wie Spuren von Nüssen in Schokolade. Doch wenn man eben auf Nüsse allergisch ist, dann sollte man diese Schokolade halt einfach nicht essen.) Da war so viel auf einmal drin, in seiner Reaktion, es war so subtil, doch etwas gab mir das Gefühl, dass wir es beide schon verstanden und abgeschätzt hatten, bevor sich irgendein zu naher Moment überhaupt erst ergeben könnte.
Die Afterparty war in vollem Gange und A's Kumpel wandte sich dieser zu und sich von uns ab. A. meinte dann, er wolle kurz nach ihm sehen, und kam danach mit zwei Drinks wieder. Irgendwie hatte ich das schon gewusst, und vorher mein letztes 2€ Stück in seinen graffitibedruckten Beutel rutschen lassen. Denn A. lebte ein tolles Leben, machte vieles richtig, und hatte sein Geld kurzerhand für das Krongressticket ausgegeben und jetzt nicht mehr viel für den kommenden Monat übrig. Und ich hatte ein etwas zu arbeitsfokussiertes und zudem Kindergeld- und Bafög-abgesichertes Leben und wirklich mehr als genug und nötig auf meinem Konto herumliegen. Ich bedankte mich bei A. für die Drinks und während wir Eiswürfel rührten, erklärte er mir das Unternehmen in dem er arbeitete. Eine Website-Beratung für NGOs, in der jeder Kunde so viel bezahlte wie er konnte, in dem es keine Hierarchien gab, und in dem sich die 12 Kollegen, die überall auf der Welt verstreut wohnten, aller 50 Minuten anriefen, weil sie wussten dass sie alle ADHS hatten und sich gegenseitig motivieren, erinnern und unterstützen wollten. Ich hatte keine Fragen mehr.
Später lagen wir eine Weile auf dem Rücken und beobachteten die sich langsam bewegenden Lampen an der Decke des Kongressgebäudes, die aussahen wie ein Mobile über einem Säuglingsbett. Ich fühlte mich dadurch noch mehr geborgen. Das innere Kind geborgen im Sinne von: ausgebuddelt. Und behütet. Ein paar Leute von den oberen Etagen, die nach unten in die offene Eingangshalle schauten, winkten uns zu. Dann kamen ein paar junge Menschen zu uns, um Drehzeit zu schnorren und unnötig schnell unnötig tiefgründig übers Leben zu reden, wie das Drehzeug schnorrende Leute eben tun. Tabak hatten sie schon ergattert gehabt, hielten ihn in kleinen Haufen in den Handflächen, die sie nun in A's geschenkte Papes kippten. Eine Kippendreherin hatte zu viel Tabak übrig und steckte - auf A's Vorschlag hin - den Rest in ihre dunkelblaue Socke. Wir lachten. Dann waren sie wieder verschwunden.
Und A. und ich standen auf, um kurz richtig bei der Afterparty vorbeizuschauen und aus einem Einkaufswagen von einer Person mit Wassereis beschenkt zu werden. Danach stromerten wir noch einmal ein bisschen herum, zum Beispiel hinter dem Empfangstresen, der nun leer und zugänglich und aus irgendeinem Grund voller Bürostühle gestapelt war. Es sah aus, als wären diese Stühle irgendwann zum Leben erwacht, und hätten sich beim Untergang der menschlichen Zivilisation ängstlich dort zusammengekauert, um danach dort zu erstarren.
A. drehte sich auf einem dieser Stühle im Kreis und ich ließ ihn so warten, während ich in dieser Endzeitstimmung kurz nach den Toiletten suchte, die jetzt wieder binär beschildert waren, weil jemand den "all Gender" Zettel schon abgenommen hatte, was ich auf einmal ganz befremdlich fand. Und als ich kurz so alleine auf der Toilette saß, bekam ich das Gefühl, das alles könnte mir viel zu schnell entgleiten. Dieser Kongress, diese Menschen, diese Ideen.
A. und ich hatten keinen festen Treffpunkt ausgemacht, doch ich fand ihn ganz in der Nähe an einem Tisch stehen mit einem Typen, der aussah wie Rick Sanchez, aber in jungen Jahren. Er trug eine Stiege voller übrig gebliebener Fundsachen und stellte sie auf der Rezeption ab, hinter der A. neugierig auf den unordentlichen Haufen blickte. Der Typ meinte, wir könnten uns gerne etwas nehmen, bevor er es zum Fundbüro bringen würde Dann erklärte er uns den "Elfen-Modus", den Zustand, wenn Leute nach einem Rave so tun als würden sie halb-lebendig noch weiterfeiern, um dabei von der Party heimlich alle "Fundsachen" einzusammeln. Während er seine Ausführungen machte, schnallte er eine teure Architektenlampe, einen Pulli, eine Tasse und noch ziemlich viele andere Dinge an seinen Rucksack, der unter der Last dieser Objekte gänzlich seine Form verlor, alles jedoch tapfer festhielt, wie ein Rucksack das eben nur kann, wann man so viel naives, entspanntes, ganz und gar chilliges Vertrauen in ihn legt. A. fischte sich ein Pennyboard heraus und machte ein paar Tricks, natürlich, er konnte auch skaten - was sonst - und dann brachten wir den Rest mit unserem neu gewonnen Freund zum Fundbüro. Ich hätte den Typen gar nicht wahr genommen, geschweige denn genug Geduld für seine verballerte langsame Sprechweise gehabt, doch A. hatte sich ganz intuitiv ihm zugewandt, oder er sich A., wie auch immer, aber das ist das, was ich mit gütig meine, und was ich mir in solchen Momenten immer bei solchen Menschen abschauen möchte. Und A. und ich hatten Gutscheine für Drinks und einiges an Kleinscheiß geschenkt bekommen, sowie Lebensweisheit.
"This was Rick Sanchez in our Part of the Multiverse, I swear!", sagte ich zu A. und war mir dabei wirklich sicher, und das war kein Spass - zumindest wünschte ich mir das. Und wenn ich A. anschaute, glaubte ich es sogar fast. Denn er stimmte mir mit aufgerissenen Augen zu, und lachte dann mit zusammengezwinkertem Blick, und ich stellte diese Veränderungen fest, und machte dann wieder das, was ich sonst schon die ganze Zeit tat: viel mit ihm reden und ihn dabei wenig anschauen. Vielleicht studierte ich mal seine orange Hose mit dem lila Sticker, der auf seinem Knie klebte und zu dem lila Pulli passte, den er sich mittlerweile angezogen hatte. A. erzählte mir, dass er früher immer nur schwarz getragen hatte, und der Kauf dieser Hose sozusagen ein bisschen sein Leben verändert hatte. Ich kannte A. ja nur in bunt und konnte es mir kaum anders vorstellen, das sagte ich ihm auch, und er lachte. "But wearing colours make me feel very vulnerbale, you know what I mean?". Ich nickte, doch eigentlich dachte ich noch nach und blickte dabei auf meinen pissgelben Pulli und die Bluejeans. Vielleicht war es ein Privileg meinerseits, diese Verletzlichkeit vor lauter Freude zur Hingabe gar nicht mehr zu spüren. Oder aber ich war eben weiblich gelesen und A. männlich.
"I don't want to be a man.", hatte A. noch irgendwann gesagt "It's no good thing to be a man.". So hatte ich das noch nie gesehen. Ich mochte A. und ich kannte A. nur in bunt und glücklich und ruhig.
Schon komisch, wenn man Menschen nur so kurz kennt, und dabei denkt, das wäre viel. Vielleicht ist es ja auch viel, nur eben auch viel im Jetzt, und vieles anders. Das muss man sich bewusst machen, sich immer wieder dran erinnern, denn ich glaube, die vielzuschöne Jetzt-Zeit falsch einschätzen ist vielleicht manchmal noch heimtückischer, als alles hinterher zu romantisieren.
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