4. Luca

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Zoey's P.O.V.

Als sich am anderen Ende mein "Freund" meldete, machte sich gleichzeitig Erleichterung und Wut in mir breit. Warum hatte er nicht bei mir angerufen? War es ihm nicht aufgefallen, wie beschissen es mir geht?

"Darling, was ist los?", fragte er, als er meine geknickte Stimme hörte.

"Können wir uns morgen kurz treffen? Ich muss mit dir reden", bat ich ihn.

"Klar, um zwei im Park?", schlug Luca vor. Ich musste kurz schlucken, als ich mich fragte, wie er wohl reagieren würde. "Zoey? Bist du noch dran?"

"Ja, sorry, war in Gedanken. Geht klar, dann bis morgen", sagte ich.

"Hab dich lieb", sagte Luca noch als letztes. Irgendwas daran versetzte mir einen gewaltigen Stich in mein ohnehin schon strapaziertes Herz.

"Ich dich auch", sagte ich. Wir beide legten auf.

"Wenn irgendwas ist, rufst du morgen sofort an, ja?", sagte Caitlin sofort. "Ich bring den Pisser um, wenn er dir wehtut!"

Ich nickte. Sie griff nach meiner Hand.

"Versprochen? Ich will dich nicht abends im Park suchen, weil du irgendwo total fertig zusammengebrochen bist, klar?", sagte sie eindringlich und schaute mich streng an.

Ich lachte. "Versprochen."

"Wehe, du rufst nicht an", drohte sie mir, doch dann mussten wir beide lachen.

"Ich geh nochmal rüber und pack schon mal ein paar Sachen zusammen, ja?", sagte ich.

"Soll ich dir helfen?", fragte Caitlin und hörte sofort auf zu lachen. Das liebte ich an ihr. Sie konnte nicht lachen, wenn es mir scheiße ging. Und andersrum genauso. Und so sollte es auch in jeder Freundschaft sein.

Dafür stand das Wort Freundschaft ja eigentlich auch. Was war es denn für eine Freundschaft, wenn man sich immer gegenseitig verletzte, runtermachte oder auslachte? Da konnte man sich direkt zu seinen Feinden stellen ... ich war in dem Augenblick so froh, Caitlin zu haben. Sie war wie das Teil meiner Seele, die mir immer schon gefehlt hatte.

"Nein, danke, das schaffe ich schon", lächelte ich. Caitlin nickte bloß milde und verständnisvoll lächelnd. Sie verstand, dass ich Zeit für mich allein brauchte. Zeit für mich, um in Ruhe Abschied nehmen zu können.

Ich stand auf und ging die Treppe runter. Im Wohnzimmer kam ich an Caitlin's Eltern vorbei, doch ich rannte beinahe raus, damit sie mich nicht volllabern konnten. Das brauchte ich im Moment am wenigsten. Caitlin's Mum hatte ihre nervige Art, mich Kindchen zu nennen, seit der Beerdigung meiner Mum noch gesteigert, wenn das überhaupt noch ging. Irgendwann würde ich es nicht mehr aushalten und ihr es ins Gesicht schreien, dass sie aufhören soll so zu tun, als wäre ich ihre Adoptivtochter! Und Caitlin wusste das.

Kaum betrat ich den Flur unseres Hauses, schossen mir wie auf Kommando die Tränen in die Augen. Alles hier sah nach meiner Mum aus. Es roch sogar nach ihr. Wie ich das vermissen würde. Ihre Wärme, ihre Nähe. Und das schlimmste war, dass ich nie wieder sehen konnte, wie sie lachte.

Sie war vielleicht nicht die perfekte Mutter, aber für mich war sie die beste Mum, die ich mir überhaupt vorstellen konnte. Als ich die Fotoalben durchblätterte und immer wieder meine Tränen auf die Seiten und Fotos tropften, die meine Mum sich so oft angesehen hatte, wurde mir klar, wie viel sie mir wirklich bedeutet hatte. Ich hatte immer geglaubt, ich hätte ein normales Verhältnis zu meiner Mum, wie alle anderen auch. Doch in Wirklichkeit brauchte ich sie so sehr. Wie sollte ich das bloß alles schaffen? Ein neues Land, eine neue Familie, niemanden, den ich kenne, nur einen Vater, mit dem ich seit zehn Jahren kein einziges Wort mehr gewechselt hatte. Bis heute.

Die Fotos zerrten an meinem Verstand. Ich klappte das Album zu und schubste es energisch von meinem Schoß und kniff die Augen zusammen. Es tat so weh, alles noch einmal zu erleben. Die Gesichter der Polizisten, als sie mir sagten, dass meine Mum tot war. Mein Herz, was in diesem Moment zersprang und dessen Splitter sich in alle vorstellbaren Organe meines Körpers bohrten.

Immer wieder schossen mir die Fotos wie Gift durch mein Gehirn. Wie meine Mum mich als Baby lachend in den Armen hielt. Mein erster Tag im Kindergarten. Mein erster Tag in der Schule. Der Tag, an dem Jack uns verlassen hatte und ich auf dem Boden saß und malte. Ich krallte mir meine Hände in die Haare und versuchte erfolglos, die Bilder aus meinen Gedanken zu vertreiben, doch sie klammerten sich an meine Nerven wie Babys an die Arme ihrer Mutter.

Ich packte die ganzen Alben in einen Karton und klebte ihn fest zu. Danach riss ich alle Klamotten aus meinem Schrank und stopfte es in einen Koffer. Das gleiche machte ich im Badezimmer.

Doch vor der Tür vom Schlafzimmer meiner Mutter blieb ich stehen und zögerte, bevor ich reinging. Ich kniff kurz die Augen zusammen, als mich die Welle des Schmerzes erneut zu ersticken drohte. Dann nahm ich drei Teile aus ihrem Schrank und legte sie als Erinnerung in meinen Koffer.

Mit einem kleinen Rucksack ging ich durch das ganze Haus und sammelte alles ein, was ich mitnehmen wollte und hier verstreut lag. Die Lieblingskette meiner Mum hängte ich mir um den Hals.

Dann zog ich den Reißverschluss des Koffers zu, ging raus und drehte mich noch einmal für einen letzten Blick in unseren Hausflur um. Ich schwor mir, nie wieder dieses Haus zu betreten. Es waren zu viele schmerzhafte Erinnerungen dabei, wenn ich es ansah. Und dann verschloss ich sorgfältig mein Herz.

Bei Caitlin im Zimmer sahen wir uns noch einen kurzen Film an, bevor wir beschlossen, schlafen zu gehen.

Während Caitlin offensichtlich keine Probleme hatte, einzuschlafen, wälzte ich mich von einer Seite auf die andere, während mich die Gedanken an meine Mum quälten. Immer, wenn ich kurz einnickte, schossen mir Bilder von ihr durch den Kopf. Wie sie wohl als Leiche aussah. Kalt, reglos, stumm. Mit gefalteten Händen, die Augen geschlossen und starr wie eine Puppe. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus und nahm eine Schlaftablette. Normalerweise würde ich mir das ja nicht durchgehen lassen, aber sonst würde ich morgen bei Luca einschlafen. Und das konnte ich nun wirklich nicht bringen.

Dann fiel ich endlich in einen traumlosen Schlaf. Gott sei Dank gab es diese Tabletten!

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Überarbeitet

Badboy's GoodgirlWo Geschichten leben. Entdecke jetzt