Kapitel 14 - Stand by yourself

217 6 1
                                    

Es fiel Sebastian mehr als schwer, Anne in Feldcroft zurückzulassen. Nach ihrem Schmerzanfall am vorigen Abend hatte er sie keine Sekunde lang aus den Augen gelassen, auch wenn sie ihm immer wieder versichert hatte, dass es ihr wieder gut ging und er sich keine Sorgen machen solle. Tief in seinem Inneren wusste er ja, dass Anne mittlerweile auch gut allein zurechtkam, aber der Gedanke, dass die Anfälle eines Tages eventuell doch schlimmer werden könnten und sie dann ganz auf sich allein gestellt war, zerriss ihm sein Bruderherz.
„Melde dich bitte sofort, wenn du Hilfe brauchst und ich lasse sofort alles stehen und liegen.", sagte er, als er sich zusammen mit Clarissa und Nathan zum Aufbrechen bereit gemacht hatte. Anne stand in einen dicken Wintermantel gehüllt vor ihm und lächelte sanft. Es beruhigte sie zu wissen, dass er auf Abruf bereit stand und sie ihm so wichtig war, aber sie wollte nicht, dass er sein ganzes Schulleben quasi in Bereitschaft verbrachte. Er sollte die Zeit in Hogwarts genießen und außerdem brauchten Ominis und Phina ihn genauso wie sie, wenn nicht sogar noch mehr.
„Es geht mir gut, Sebastian, wirklich. Und ich verspreche dir, ich sage dir sofort Bescheid, wenn es schlimmer werden sollte.", sagte sie schließlich und zog ihn noch einmal für eine letzte, intensive Umarmung zu sich heran. „Grüß Phina und Ominis von mir."
„Mach ich.", antwortete Sebastian und schloss kurz seine Augen, um den Moment mit seiner Schwester voll auszukosten und zu genießen. Sie war die ganzen Ferien über absolut offenherzig zu ihm gewesen und er hatte sich die ganze Zeit über willkommen gefühlt, aber als sie ihn nun losließ, realisierte Sebastian plötzlich, dass das schwarze Loch in seinem Herzen immer noch genauso groß und schmerzhaft war, wie zuvor. Er wusste, es würde erst heilen können, wenn Anne ihm klar und deutlich sagen würde, dass sie ihm vergeben hatte. Dass sie das Thema Solomon nicht ein einziges Mal angesprochen hatte, zeigte ihm unmissverständlich, dass sie noch nicht so weit war und diese erste Annäherung zwar ein großer und wichtiger Schritt in die richtige Richtung gewesen war, aber noch längst nicht ausreichte, damit es wieder vollkommen so werden konnte, wie früher. Sie brauchte Zeit und Sebastian würde sie ihr geben. Nichts war ihm so wichtig wie Annes Vergebung, die er sich verdienen würde, ganz egal, wie lang es dauern würde. Doch das würde nichts daran ändern, dass auf Platz zwei direkt danach weiterhin die Suche nach einem Heilmittel für sie stand. Nun, wo er Nathan besser kennen gelernt hatte, sah er in dem Hüter-Nachfahren keine Bedrohung mehr, sondern vielmehr einen mächtigen Verbündeten, der sogar Koboldmagie trainierte und bereits annähernd beherrschte. Eventuell gab es ja in dieser Richtung noch unentdeckte Möglichkeiten, dunkle Flüche aufzuheben, die nichts mit schwarzer Magie zutun hatten. Und da Nathan sich offensichtlich auch für Anne interessierte, würde es womöglich sogar ziemlich leicht sein, ihn davon zu überzeugen, bei der Suche nach einem Heilmittel zu helfen.
Der Weg zurück nach Hogwarts war allerdings nicht die passende Gelegenheit dafür, um ihn darauf anzusprechen, denn Clarissa und er waren in angeregte Diskussionen darüber vertieft, wie sie ihre Zauberkräfte am besten kombinieren könnten, um ein dauerhaft intaktes Amulett als neues Behältnis für Phinas Macht zu schaffen. Sie hatten sogar ein paar Bruchstücke des Koboldsilbers aus Feldcroft mitgenommen, damit sie nicht bis zum nächsten Wochenende warten müssten, um verschiedene Variationen auszuprobieren.
„Vielleicht kann ich auch noch dazukommen.", bot Sebastian schließlich an, nicht weil er sich sonst ausgeschlossen fühlte, sondern weil er wirklich dabei helfen wollte, so schnell wie möglich ein neues Behältnis für Phina zu erstellen, weil er wusste, dass es das war, was sie unbedingt wollte. Nathan nickte sofort begeistert, während Clarissa ihn noch einmal abschätzend musterte, dann aber ebenfalls einen Mundwinkel hob.
„Immer gern, Mr. Sallow.", sagte sie und Sebastian war sich sicher, dass ihre Augen beinahe funkelten, als sie ihn direkt und intensiv ansah. Sie war trotz der Narbe in ihrem Gesicht einfach so wunderschön, dass ihr Blick und ihre zarte Stimme ausreichten, um Sebastian kurz aus der Fassung zu bringen und er stolperte über eine Unebenheit auf dem Boden. Glücklicherweise fand er sein Gleichgewicht schnell wieder und fiel nicht hin, sondern lief nach einem kurzen Straucheln einfach gerade weiter. Clarissa lachte leise darüber und es wirkte nicht schadenfroh, sondern irgendwie ansteckend und Sebastian grinste verwegen, als er ihr erneut einen Blick zuwarf.
„Ich sage dir Bescheid, wenn wir neben dem Unterricht überhaupt eine ruhige Minute und einen passenden Ort finden, an dem wir ungestört herumexperimentieren können.", sagte Nathan und für einen Moment überlegte Sebastian, ob er ihm genau wie Phina damals die Krypta zeigen sollte. Immerhin war sie der perfekte Ort für ihr Vorhaben und sie würden fernab von neugierigen Augen und Ohren ihre Koboldmagie ausprobieren können. Ominis würde mit Sicherheit auch nichts dagegen haben, immerhin würde es ja dem Zweck dienen, Phina zu helfen und Sebastian war sich sicher, dass sie ihm so viel bedeutete, dass er seine geliebte Krypta sofort dafür zur Verfügung stellen würde. Dennoch würde er seinen besten Freund vorher um Erlaubnis fragen, er wollte es nicht noch einmal riskieren, jemanden einfach so in den Raum zu lassen, der ursprünglich einmal Ominis allein gehört hatte.
„Wir sehen uns.", sagte er deswegen einfach nur, als sie Hogwarts schließlich erreicht hatten und er nach dem Eintreten direkt in Richtung des Slytherin-Gemeinschaftsraums abbog. Die Luft im Schloss und die gesamte Atmosphäre nahmen ihn ab der ersten Sekunde schon wieder vollständig ein. Es war faszinierend, was für ein Gefühl von Geborgenheit und Zuhause diese Schule ausstrahlte. Man fühlte sich sofort willkommen und gut aufgehoben und Sebastian war sich sicher, dass er sich niemals an all den Verzierungen und Dekorationen im Schloss sattsehen würde. Auch wenn es schon sein sechstes Schuljahr hier war, so fand er doch immer wieder neue Details und Winkel, denen er bisher noch keine Beachtung geschenkt hatte. Doch auch jetzt hatte er keine Zeit und Gedanken für eine frische Entdeckungstour, es zog ihn sofort und dringlich in den Gemeinschaftsraum, denn er konnte es nun kaum noch erwarten, endlich Phina und Ominis wiederzusehen, auch wenn er nur etwa zwei Wochen weg gewesen war. Es überraschte ihn selbst, wie sehr er sich darauf freute, seine besten Freunde endlich wieder um sich zu haben. Als er die Wendeltreppe so schnell heruntergerannt war, dass er beinahe wieder gestolpert wäre, ließ er sofort seine Tasche fallen, als er Phina entdeckte und stürmte lächelnd auf sie zu. Sie erwiderte sein Lächeln sofort, als sie ihn entdeckte und in ihren Augen konnte er förmlich lesen, wie erleichtert sie zu sein schien, dass er wieder da war und dass die Zeit mit Anne offenbar so schön gewesen war, dass er so gut gelaunt zurückgekehrt war.
„Sebastian!", rief sie ihm fröhlich entgegen und hatte einen ebenso schnellen Schritt drauf, wie er selbst, bis sie sich schwungvoll in seine ausgebreiteten Arme warf. Sebastian lachte und wirbelte sie ein paar Mal im Kreis herum, bevor er sie wieder sicher auf ihren Füßen absetzte. Beim Versuch, sie wieder aus seiner Umarmung zu entlassen, bemerkte er, dass Phina ihn immer noch an sich drückte, woraufhin er ihr lächelnd einen kurzen Kuss auf den Kopf drückte.
„Da hat mich aber jemand vermisst.", scherzte er und nachdem Phina ihn noch ein letztes Mal kraftvoll drückte, ließ sie ihn schließlich los und sah zu ihm auf.
„Natürlich haben wir dich hier vermisst. Wie war es in Feldcroft?", sagte sie und versuchte, ihre Frage nicht zu neugierig und aufdringlich klingen zu lassen, aber Sebastian kannte sie zu gut und wusste, dass sie gerade innerlich vor lauter Aufregung tobte, weil sie unbedingt wissen wollte, ob Anne und er sich endlich ausgesprochen hatten. Ihre hübschen, großen, grünen Augen zeigten ihm aber auch, dass es sie ehrlich interessierte und sie nicht einfach nur auf den neusten Klatsch und Tratsch aus war, sondern es ihr wirklich ernsthaft am Herzen lag, dass die Zwillinge wieder zueinander fanden.
„Es war schön, und ich soll dich ganz lieb von ihr grüßen, aber es wird noch etwas dauern, bis Anne und ich über die Geschehnisse in den Katakomben sprechen können.", sagte er und sein Lächeln verblasste ein wenig. Man konnte ihm ansehen, dass er versuchte, es aufrecht zu erhalten, weil die Zeit mit Anne wirklich schön gewesen war, aber er wusste auch, dass dieses Gespräch weiterhin vor ihm lag und unangenehm werden würde. Er seufzte leise, während Phina ihm fürsorglich eine Hand auf den Oberarm legte.
„Ich weiß, dass wir nicht darum herum kommen werden, aber es wäre falsch gewesen, es sofort zu thematisieren, denn sie wäre noch nicht bereit dafür gewesen, sich anzuhören, was ich ihr dazu sagen will. Es hätte sie nur wieder von mir weggetrieben.", fuhr er leise fort und die hauchzarte, aufrichtige Traurigkeit in seiner Stimme ließ Phina sofort jeden restlichen Zweifel daran über Bord werfen, ob er seine Taten wirklich ehrlich bereute. Auch wenn Phina und ihm weiterhin absolut klar war, dass Solomon falsch gehandelt und die beiden damals ernsthaft bedroht hatte, so konnte er mittlerweile zumindest endlich zugeben, dass die Wahl seiner Gegenwehr mit einem Todesfluch nicht verhältnismäßig gewesen war. Auch wenn Solomon ein schrecklicher Onkel und eine noch furchtbarere Vaterfigur gewesen war und den Tod vermutlich verdient hatte, weil er zwei Jugendliche mit gefährlichen Zaubersprüchen aus seiner Auror-Karriere angegriffen hatte, hatte Sebastian mittlerweile verstanden, dass dieser Mann es eigentlich nicht wert gewesen war, dass er wegen ihm zum Mörder geworden war und er es hätte anders lösen müssen. Anne hatte ihren Onkel immer als Familie angesehen und zu ihr war er auch nie so boshaft und manipulativ gewesen wie zu Sebastian, deswegen musste er akzeptieren, dass sie seine Entscheidung von damals niemals würde gutheißen oder nachvollziehen können. Er konnte nur versuchen, dass diese eine Fehlentscheidung von ihm nicht für immer zwischen den beiden stehen würde. Und er wusste, dass das nur dann möglich war, wenn er sich besserte und den Sebastian hinter sich ließ, der das Gefühl der Überlegenheit und Macht genossen hatte, das die dunkle Magie und die Unverzeihlichen Flüche ihm gegeben hatten. Er durfte dieser dunklen Seite in ihm nicht mehr nachgeben und er kämpfte mit aller Willenskraft dagegen an. Und Phina und Ominis waren seine beiden größten Stützen in diesem Kampf. Ihr liebevoller und warmer Blick, mit dem sie ihn gerade ansah, drang scheinbar direkt in sein Herz ein und erfüllte es mit neuer Stärke. Er würde die Hoffnung und das Vertrauen, das sie in ihn legte, obwohl er sie schon so oft enttäuscht hatte, nicht noch einmal in Gefahr bringen.
„Ihr seid auf einem guten Weg, Sebastian. Und egal, was passiert, Ominis und ich werden immer für dich da sein.", sagte sie und Sebastian nickte leicht, bevor er sich zu ihr vorbeugte und ihr ohne jegliche Vorwarnung einen Kuss auf die Wange drückte. Phina erstarrte zu vollkommener Bewegungslosigkeit, als sie seine weichen Lippen auf ihrer Haut fühlte und ihr sein Sebastian-typischer Duft in die Nase stieg.
„Danke.", hauchte er, als er sich schließlich wieder von ihr entfernte und sie für einen weiteren unendlich erscheinenden Augenblick in seinem Blick gefangen hielt. Diese Reh-Augen waren so unglaublich fesselnd, dass Phina gar nicht mehr wegsehen wollte. Es tat einfach viel zu gut, ihn wieder in der Nähe zu haben. Sebastian blinzelte schließlich, grinste sie noch einmal schelmisch an und drehte sich dann um, um seine Tasche wieder aufzusammeln.
„Apropos Ominis...", sagte er dabei und warf sich den Gurt der Tasche über die Schulter. „Wo ist der eigentlich?"
Als Phina nicht direkt antwortete, blickte Sebastian etwas verwirrt zu ihr zurück. Für gewöhnlich löste die Erwähnung von Ominis bei ihr ein sanftes, freudiges Lächeln aus, aber jetzt sah sie fast etwas trübselig drein. Aus einer Eulenpost, die sie ihm zwischen Weihnachten und Neujahr nach Feldcroft geschickt hatte, wusste er, dass die beiden hier eine schöne gemeinsame Zeit erlebt hatten und auch wenn es ihn zunächst etwas beunruhigt hatte, dass die beiden sich eventuell näher kommen könnten, als ihm lieb war, so wühlte ihn dieser sorgenerfüllte Blick, den Phina jetzt aufgelegt hatte, fast noch mehr auf. Anstatt weiter nachzuhaken, zog er nur die Augenbrauen hoch und sah sie weiterhin an, während er auf eine Antwort wartete. Phina seufzte und sah schließlich auf den Boden vor ihren Füßen.
„Er hat sich in euren Schlafsaal zurückgezogen, nachdem wir die neuen Stundenpläne für das nächste Halbjahr bekommen haben... Ganz Slytherin hat Theorie der Magie darauf stehen. Jede Woche.", erklärte sie und musste Sebastian nicht daran erinnern, warum Ominis das in innere Unruhe versetzte.
„Denkst du, dass seine Familie dahintersteckt? Oder ist es Zufall?", erwiderte Sebastian nachdenklich und runzelte die Stirn, während Phina tief durchatmete und mit den Schultern zuckte.
„Ich weiß es nicht, aber er hat bereits versucht, mit Professor Sharp zu sprechen, ob er den Kurs abwählen und dafür einen anderen besuchen kann. Sharp hat dann bei Professor Black nachgehakt, aber der hat ihn wohl sofort abgewürgt. Kein Wunder, wenn der mit diesem Drewitt unter einer Decke steckt.", sagte sie und ihre Stimme war mit jedem Satz missmutiger und rauer geworden. Bei der Erinnerung daran, wie unheimlich und bedrohlich Professor Drewitt die drei während seiner Begrüßung in der Großen Halle angestarrt hatte, konnte Sebastian ihren Unmut und auch Ominis' Sorgen gut nachvollziehen. Und auch wenn er gern noch mehr Zeit mit Phina verbracht hätte, so gab es für ihn jetzt nur eine Sache zutun.
„Mach dir keine Sorgen, ich gehe sofort zu ihm und werde ihn schon irgendwie aufmuntern."

Cursed (Hogwarts-Legacy fanfiction)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt