4. Colin

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Es war mitten in der ersten Schulwoche und die neuen Eindrücke prasselten nur so auf mich ein. Ich suchte mir oft kleine Momente, in denen ich mich in eine Ecke zurückzog, die Augen schloss und tief ein- und ausatmete. Ein und aus, ein und aus... Ich wusste, dass ich kompliziert war und keinen Tag wie jeder andere Mensch durchstand. Aber es würde besser werden, sobald ich mich an alles gewöhnte und sich der normale Schulalltag einpendelte. Aber diese erste Woche auf dem Einstein war alles andere als Alltag oder normal. Statt einfach mit dem Unterricht zu beginnen, bestanden alle Lehrkräfte darauf, „dass wir uns untereinander mit Kennenlernspielen und Gruppenaktivitäten näher kommen, um gemeinsam eine tolle Oberstufen-Zeit zu erleben". Ich konnte es nicht mehr hören, denn es bedeutete für mich, dass ich fünf Stunden am Tag die selben Sätze zu irgendwelchen Leuten sagen musste:

Hi, ich bin Colin. Ich bin 16 Jahre alt, ich höre den ganzen Tag Musik und finde alle Fächer ganz okay. Ich mag Pizza lieber als Pommes, Schoko ist meine Lieblings Eissorte und rot meine Lieblingsfarbe...

Ich wusste nicht, was ich sonst über mich erzählen sollte, aber es wollte sowieso niemand etwas anderes wissen. Am liebsten hätte ich gar nichts gesagt. Wozu war das wichtig? Was bringt es mir, das von einem Menschen zu wissen? Außerdem funktioniert das alles so nicht. Man kann nicht auf Knopfdruck ein gutes Gespräch führen. Entweder es kommt oder es kommt nicht.

Ich wünschte, mir würde es leicht fallen, einfach so mit Menschen zu reden, Gespräche aufzubauen und in einer Gruppe aus Leuten meinen Platz zu finden. Aber so sehr ich es wollte und versuchte, ich schaffte es nicht. Dabei fühlte ich mich oft alleine. Und diese Oberflächlichkeit machte es nicht besser, denn sie ließ keinen Raum für wirklich persönliches, was mich wiederum unwohl und noch befremdlicher fühlen ließ. Trotzdem war ich meiner Ansicht nach immer zu allen freundlich, auch wenn es mich mehr Energie kostete.

Wie auch in diesem Moment. Der gesamte Kurs saß aufgeteilt in zwei Kreisen: der innere Kreis war nach außen gerichtet und der äußere nach innen. So saßen sich immer zwei Leute gegenüber und jede Minute rutschte der äußere einen Stuhl weiter. Jetzt saß Julia vor mir.

„Hey Colin!" sagte sie völlig enthusiastisch. Ich beneidetet sie um diese Energie.

„Hi."

„Wir haben uns im Internat gar nicht mehr gesehen. Wo bist du denn die ganze Zeit gewesen?"

„Oh, ach so... ich war die letzten Tage nur viel auf meinem Zimmer und habe mich auf den Schulstoff vorbereitet." Und das war noch so eine weitere Sache, die ich nicht an mir mochte. Ich konnte niemanden vermitteln, dass ich einfach eine Person war, die sehr viel Zeit für sich brauchte. Entweder log ich oder zwang mich durch soziale Situation.

„Verstehe, du kommst ja von einer anderen Schule. Aber glaub mir: du wirst dich hier schon schnell zurecht finden."

„Wie lange bist du denn schon hier?"

„Das ist mein drittes Jahr jetzt. Eigentlich sollte das nur ein Zwischenstopp werden, aber naja... es gefiel mir dann so gut, dass ich geblieben bin. Und-"

„Okay, weiter gehtˋs", rief die Lehrkraft in den Raum.

„Wie wärˋs, wenn wir heute mit ein paar anderen zusammen zu Abend essen? Dann lernst du gleich auch ein paar Leute kennen und es wird dir bestimmt einfacher fallen, hier so richtig anzukommen."

Bei dieser Frage machte sich sofort ein innerer Konflikt in mir breit. Ich konnte, ich konnte nicht, ich wollte, ich wollte nicht..., aber vielleicht hatte sie ja Recht. Ich wollte es wenigstens versuchen.

„Klar, gerne."

„Super! Dann bist heute Abend."

Ich nickte ihr lächelnd zu und konzentrierte mich wieder auf meinen auswendig gelernten Text: Hi, ich bin Colin...

||nolin|| zarte kontrasteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt