40. Colin

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Ich wusste nicht, was ich mir mit dem Aufeinandertreffen mit Lucas vorgestellt hatte, aber ganz bestimmt nicht das. Wir hatten uns jahrelang nach gesehen und im Gespräch wurde mit jeder Sekunde deutlicher, dass wir uns überhaupt nicht kannten. Er war kein alter Freund, den ich wieder getroffen hatte, sondern einfach nur ein Junge, der in der Zeit bleiben sollte, in der wir auf Klassenfahrt waren.

Auf dem Weg zur Aussichtsplattform spürte ich mit jedem Schritt mehr, wie ich mich in mich selbst zurückzog. Ich wurde leiser, sprach weniger, hing irgendwelchen Gedanken nach und wusste nicht mehr, wie ich mich in der Situation verhalten sollte. Ich war froh, dass Noah das Gespräch übernahm. Ich sah zu ihm und mein Blick blieb an ihm hängen. Ich wollte einfach nur noch mit ihm alleine sein, aufs Zimmer gehen, die anderen rausschmeißen und mich mit ihm ins Bett legen. Ich wollte ihn spüren, ganz nah bei mir, meine Hände über seinen Körper wandern lassen, meine Lippen auf seine legen... ich hatte das Gefühl, dass es das einzige war, was mir half. Gleichzeitig wusste ich aber auch, dass es nicht das einzige sein sollte. Ich musste lernen, mich selbst zu verstehen und mit meinen... Problemen klar kommen. Aber es war schön zu wissen, dass es einen Menschen gab, der mich allein mit seiner Anwesenheit so unfassbar gut fühlen ließ, auch dann, wenn es mir nicht gut ging.

Noah, Lucas und ich gingen die letzten Treppen hoch und öffneten dann eine schwere, dunkle Tür. Mittlerweile wusste ich nicht mehr, ob das hier wirklich eine offizielle Aussichtsplattform war und nicht einfach das Dach, auf dem wir eigentlich nicht sein durften. Ich fühlte mich unwohl und wollte einfach nur noch umkehren.

„Voilà!" rief Lucas aus. „Ist das nicht schön hier?"

Das Ding ist: es war wirklich schön. Unter uns war die Stadt zu sehen, die im Dunkeln in den buntesten Farben erleuchtete. Große Leuchtbuchstaben zeigten die Namen von Bars, Cafés und anderen Geschäften auf und viele kleine Menschen gingen und fuhren von einem Ort zum nächsten. Großstadt eben oder einfacher gesagt: Berlin.

Nur leider war es kalt. Sehr sehr kalt. Ich fing sofort an zu zittern.

„Wollen wir vielleicht nochmal nach unten gehen, um unsere Jacken zu holen?", fragte Noah und ich nickte sofort. Ich ging direkt zu der Tür, doch Lucas hielt mich auf.

„Noah kann doch alleine gehen. Dann könnten wir beide hier bleiben."

Oh.

„Wir könnten uns weiter unterhalten", fuhr Lucas fort. „Wir haben schließlich lange nicht mehr gesehen."

Ich sah zu Noah, der meinen nachdenklichen Gesichtsausdruck bemerkte. „Wenn das okay ist?", fragte er mich.

Ich nickte zögerliche, räusperte mich dann aber nochmal und sagte etwas sicherer: „Ja, natürlich."

„Okay... ich beeile mich auch." Dann ging Noah zur Tür, drehte sich nochmal zu mir um und verschwand.

Und dann war ich mit Lucas alleine. Ich war einfach überfordert, weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte. Ich war nicht gut in diesen Dingen und ich konnte nicht mit jedem Menschen ein flüssiges Gespräch führen. Ich hörte dann lieber zu, sagte nichts und nickte.

„Ich finde es schön, dass wir ein paar Minuten für uns alleine haben."

Ich lächelte als Antwort.

„Und ich es finde es schön, dass wir uns wieder getroffen haben. Ich hätte niemals damit gerechnet."

„Ich auch nicht." Das hatte ich wirklich nicht.

„Ich wollte mich nochmal entschuldigen, wie das damals geendet ist. Ich hätte nicht einfach gehen sollen."

„Ist schon in Ordnung. Wir waren jung, wir wussten noch so wenig von allem."

„Ja, aber ich hätte noch etwas sagen sollen, weißt du? Aber ich hatte mich dann nicht mehr getraut."

„Wie gesagt", sagte ich und wollte damit das Thema beenden, „es ist wirklich nicht schlimm. Lass uns das vergessen, okay?"

„Okay. Aber ich habe oft an dich gedacht, vor allem am Anfang."

Lucas und ich standen am Rand und lehnten uns am Gitter an. Ich schaute einfach nur in die Ferne und konzentrierte mich auf die verschiedensten Lichter, die mal aufblinkten und wieder verschwanden, aufblinkten, verschwanden, aufblinkten, verschwanden... es hätte ewig so weiter gehen können. Doch ich sah im Augenwinkel, wie Lucas ein paar Schritte näher kam. Ich sah auf den Boden, versuchte, es zu ignorieren... sah dann aber doch zu ihm.

Ich hätte in dem Moment nicht aufsehen sollen. Ich hätte es einfach nicht tun sollen. Denn eine Millisekunden nachdem ich es tat, spürte ich, wie sich sein Mund auf meinen legte. Zuerst war ich wie gelähmt, ich stand einfach nur da, rührte mich keinen Zentimeter, alles um mich herum war still und wie betäubt. Aber dann erreichte mich wieder die Geräuschkulisse von Berlin und weckte mich auf.

Sofort schubste ich ihn von mir weg. „Dein Ernst?"

„Colin... ich finde es so schön, dich wieder gesehen zu haben. Das ist Schicksal."

Ich fing an, schwer zu atmen, ich blickte um mich, alles drehte sich, ich suchte nach einer Möglichkeit, nach einem Weg, dieser Situation zu entkommen. Ich wusste, dass ich ihm mit Worten nicht mitteilen konnte, dass ich das alles hier nicht wollte. Deshalb musste ich verschwinden. Die Tür. Schnell.

„Colin, bitte warte!"

Ich beschleunigte meine Schritte und versuchte, mit aller Kraft dieses verdammte Tür aufzubekommen. Es dauerte ein paar Versuche, doch sekundenspäter bekam ich die Tür einen Spalt aus dem Schloss. Und dann sah ich auch, warum: Noah. Noah hatte die Tür aufgemacht.

„Was ist hier los?"

„Können wir einfach gehen?"

Er musste die Dringlichkeit in meiner Stimme erkannt haben, denn ohne zu warten, nickte er, nahm meine Hand und führte uns durch die vielen Gänge des Hostel, um irgendwo hinzukommen. Irgendwohin, einfach weg von hier. 

||nolin|| zarte kontrasteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt