15. Noah

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Das war ein so intensives Wochenende... nachdem Colin und ich am Sonntag Abend wieder in unseren eigenen Betten lagen, crashten die letzten Stunden des Wochenendes in Bildern und Gefühlen auf mich ein. Ich war im Bett, hielt meine Decke ganz nah an mich und versuchte, all das, was in mir war, zu kontrollieren. Doch in mir wirbelten hunderte, tausende, Millionen von bunten Punkten herum, die in alle möglichen Richtungen hin und her rasten und nebenbei noch viele andere Dimensionen erreichten, die bis lang noch versteckt zu sein schienen. Genau diese Punkte versuchte ich, auf einen einzigen zu komprimieren und zusammenzufassen, um es greifbarer zu machen, aber es war unmöglicher als alles andere. Ich drehte mich in meinem Bett hin und her, bis Colin mich fragte, ob alles gut war.

„Ich bin nur etwas unruhig...", antwortete ich flüsternd. Nach dem ein paar Sekunden Stille in unserem dunklem Zimmer herrschte, hörte ich ein Rascheln von seiner Seite. Er schaltete sein Licht ein, wühlte in seinem Schrank herum und kam dann auf mich zu.

„Hier, eine Decke für dich. Du weißt ja, dass es mir hilft... vielleicht dann auch dir." Er schwang sie über mich herüber, ging zu seinem Bett und schaltete das Licht wieder aus. „Gute Nacht, Noah", flüsterte er noch.

„Gute Nacht, Colin."

Ich nahm das Gewicht der Decke sofort auf meinem Körper wahr und auch den Geruch... ich vergrub mein Gesicht darin und spürte, wie ich müder und müder wurde. Es war ein schöner Abschluss des Wochenendes.

Doch seit diesem Abend ist diese spannungsvolle Stille da. Wir trauten uns, auf den jeweils anderen zu zugehen, aber eben nicht aufeinander. Das bedeutete, dass wenn ich auf ihn zuging, er auswich und dass wenn er auf mich zuging, ich auswich. In diesen Momenten wäre ich am liebsten weggelaufen und nie wieder gekommen, aber sobald wir nicht mehr zusammen waren, wollte ich nichts lieber, als genau das zwischen uns zu fühlen. Es war einfach aufregend, aber auch so schüchtern zwischen uns und wenn diese zwei Extreme aufeinandertreffen, gibt es Chaos, Chaos, Chaos und noch mehr Chaos...

Und dann fiel mir etwas sehr Seltsames an mir auf. Ich mochte dieses Chaos zwischen uns, ich wollte es sogar. Ich bemerkte, wie ich solche Momente herausforderte. Ich wollte, dass er mich ansah und ich seine Blicke auf meinen Körper spüre, ich wollte, dass er beeindruckt war und diesen unleserlichen Ausdruck bekommt wie vor einer Woche, als er in unser Zimmer kam und mich Oberkörper frei sah... vielleicht war es komisch, aber zu wissen, dass man auf irgendeine Art und Weise gemocht oder gewollt wird, ist ein gutes Gefühl. Und ich wollte von ihm gemocht werden.

Ich bereute keine Sekunde und keine der Worte, die ich mit Colin geteilt hatte. In diesen Momenten fiel es mir so einfach, darüber sprechen, aber das danach war das komplizierte daran. Wie sollte ich jetzt damit umgehen? Ich war nicht immer so offen, nicht immer so ehrlich und nicht immer so gefühlvoll. Und Colin... auch er schien wieder etwas zurückhaltender zu sein. Die Schritte nach vorn waren einfacher als die Schritte zurück, aber wir gingen sie trotzdem. Auch wenn meine Gedanken in den letzten Tagen davon besessen waren, über all das nachzudenken, laugte es mich auch ein wenig aus. Nicht die Gefühle an sich, aber das Wissen, dass ich eigentlich ein sehr emotionaler Mensch war, ohne dass ich es irgendwem zeigte. Ein emotionaler Mensch im Bezug auf ihn... er hatte sich geöffnet und ich hatte mich nicht getraut, ihm zu sagen, dass ich auch... fuck. Einige Gedanken wollen noch nicht ausgesprochen werden.

Wie sollte ich für jemand anderen bereit sein, wenn ich nicht einmal für mich selbst bereit war?

Colin saß am anderen Ende des Gemeinschaftsraumes, zwischen uns waren viele Schüler:innen, über die ich einfach hinwegsah und die in den Hintergrund verschwammen. Wir waren alle hier versammelt, da Frau Schiller etwas ankündigen wollte. Colin hörte ihr im Gegensatz zu mir aufmerksam zu. Ava, Joel und Julia waren auch da, aber die drei standen weit von Colin entfernt- es tat weh, das zu sehen und es machte mich wütend, dass sie Colin nicht einmal verstehen wollten. Ich blinzelte ein paar mal und versuchte, mich so selbst aus diesem Gedankenstrom aufzuwecken. Außerdem musste ich wegsehen, denn ich konnte Colin nicht minutenlang einfach nur anstarren...

„Gut, dann freue ich mich auf das Herbstfest und auf die gemeinsamen Ferien. Findet ihr es eigentlich auch so bescheuert wie ich, dass die Herbstferien so kurz nach dem Schulanfang sind? Ihr hattet doch erst Sommerferien." Frau Schiller schüttelte ironisch den Kopf und verließ mit diesen Worten den Raum.

Hä? Wovon sprach sie gerade? Fest? Ferien? Ich hätte einfach zu hören müssen... genervt atmete ich aus und sah nochmal zu Colin rüber. Er schaute gerade zu Julia, Joel und Ava und schien nervös zu sein. Nachdem er ein paar mal auf den Boden sah und sich immer wieder selbst zu bremsen schien, trat er zögerliche Schritte auf die drei zu. Ich konnte nicht hören, was er sagte, aber Ava legte sofort ihren Arm um Julia, sagte irgendetwas und drehte sie beide dann um, um zu gehen. Joel wirkte hin und her gerissen. Er wendete sich kurz zu Colin, warf ihm ein paar Worte entgegen und klopfte ihm auf die Schulter. Dann verschwand auch er.

Jetzt stand Colin alleine da und starrte ins Leere. Das Grau durch das Fenster ließ ihn noch einsamer und erschöpfter wirken. Ich ging sofort auf ihn zu.

„...Na." Wow, ich war auch schonmal besser.

Er sah mich kraftlos an.

„Also es lief wohl gerade nicht so gut...ich- soll ich vielleicht mal mit Julia reden?"

Colin schüttelte den Kopf. „Nein, ich will das selbst klären."

Verständlich nickte ich. Ich wusste absolut nicht, was die richtigen Worte in dieser Situation waren. Sätze wie: das wird schon wieder, gib ihr Zeit und alles wird gut, werden ihm nicht helfen. Er war schlau genug, um zu wissen, dass das alles nicht so einfach war.

Wir standen für weitere Sekunden einfach nur da und Colin sah wie immer überall hin, aber nur nicht in meine Augen.

„Colin..." Ich atmete tief aus. „Wollen wir vielleicht was zus-"

„Nein. Sei mir nicht böse, aber nein. Ich will gerade einfach nur alleine sein." Dann drehte er sich um, aber ich wollte ihn nicht gehen lassen. Also griff ich nach seiner Hand und hielt ihn auf. Als er sich wieder mir zuwendetet, sah er mit einem leicht erschrockenem Blick auf unsere Hände... und da war es wieder: dieses Flackern in seinen Augen, welches mich so sehr faszinierte.

„Noah... was soll das?"

Ohne zu wissen, was genau er mit seiner Frage meinte, antwortete ich ihm. „Lass uns einfach etwas zusammen machen." Dann drückte ich seine Hand etwas mehr in meine. Für ein paar Augenblicke sah er einfach wieder auf unsere Hände, bis er seine plötzlich entriss und einen Schritt nach hinten ging.

„Ich will wirklich einfach nur alleine sein." Mit diesen Worte drehte er sich nun endgültig von mir weg und ließ mich alleine zurück.

Wow. Toll. Was war das denn gerade für eine abgefuckte scheiße? Ich spürte, wie diese unerklärliche Wut in mir wieder aufkam. Wut auf mich und auf... mich, mich, mich.

Ich verstand einfach gar nichts mehr.

Mit schnellen Schritten ging ich in unser Zimmer. Ich zog mir meine Sportkleidung und Laufschuhe an, kletterte aus dem Fenster und rannte. Ich rannte und rannte und rannte immer und immer schneller, bis ich irgendwann das Gefühl hatte, nur noch nach vorne zu fallen. Normalerweise half es mir, meiner aufkommenden Wut die Kraft zu nehmen, aber dieses Mal wurde sie mit jedem Schritt größer. Als ich am See angekommen war, schrie ich und bekam als Antwort mein eigenes Echo zurück... 

||nolin|| zarte kontrasteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt