38. Colin

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Nur noch eine Stunde vor der Prüfung und meine Gedanken waren wirklich überall, aber nicht bei Mathe. Mittlerweile erkannte ich, dass auch Noah angespannt und abwesend wirkte. Er war noch stiller als sonst, er hatte diesen bekannten fokussierten Gesichtsausdruck, sein Gang war strikt, seine Haltung perfekt und seine Augen etwas finster. All das fand ich von Anfang interessant bei ihm, vor allem weil ich wusste, dass sich dahinter so viel versteckte... wie gesagt, meine Gedanken waren überall, aber mit weitem Abstand zu Mathe.

Auch an Lucas musste ich denken. Unser Aufeinandertreffen war sehr überraschend für mich gewesen und sicherlich nichts, mit dem ich gerechnet hätte. Da war vor mehreren Jahren dieser Junge aus einem anderen Land und obwohl wir wenig miteinander sprachen, verbrachten wir jeden einzelnen Abend zusammen. Und dann der Kuss. Der Kuss und die jahrelange Stille. Und plötzlich war ich gegen ihn geprallt, gegen ihn und seine Mathebücher. Hier, in Deutschland, an einem Tag, an dem ich an alles, aber nicht an ihn dachte. Generell dachte ich nicht an ihn, schon seid zwei, drei Jahren nicht mehr. Nachdem ich nach und nach für mich mehr über meine Sexualität herausfand, konnte ich die Geschichte mit ihm hinter mich lassen. Die Verwirrung fand Klarheit. Es waren wunderschöne Abende mit ihm und es war gut so, wie es war, aber wir waren vielleicht noch nicht ganz dafür bereit gewesen und jetzt sowieso nicht mehr. Und genau das brachte etwas Bedrückendes mit sich.

Ich war überfordert, wie ich ihm gegenübertreten sollte, schließlich war unser Abschied von vor ein paar Jahren etwas... anders. Er hatte mich geküsst und dann dachte ich, dass ich ihn nie wieder sehen werde. Was sollte das also heute? Warum sah ich ihn wieder? Das zusammen mit dieser riesigen Nervosität vor der Matheprüfung ergab ein Chaos in mir, vor dem ich einfach nur noch wegrennen wollte.

Und dann dachte ich an Noah, der neben mir saß und mir vor ein paar Stunden so tollte Worte geschenkt hatte. Für einen Moment wehrte sich in mir ein Gefühl, dem zu glauben, was er gerade gesagt hatte. Ich war nicht gut darin, Gutes über mich so leicht hinzunehmen. Aber dann ich sah in seinem Gesicht einen Ausdruck so voller Ehrlichkeit und Ernsthaftigkeit, einen Ausdruck, der mein Inneres zu seinen Worten zog und ihm Glauben schenkten. Glauben und Vertrauen. Ich spürte, dass in mir etwas an Noah's Worte dachte und fest daran glaubte. Denn mich überkam eine Welle an Vertrauen und Sicherheit, die sich mit einer Wärme vermischte, die ich so nur von ihm kannte.

Und jetzt war der Zeitpunkt, an dem ich danach griff, es fest hielt und dafür nutze, um an mich zu glauben... denn es waren nur noch wenige Minuten bis zur Prüfung.

Der Aufbau der Prüfung ist ganz einfach: heute werdet ihr, natürlich in euren Teams, Aufgaben berechnen müssen, die wir nur für eine bestimmte Zeit anzeigen werden. Dann kommt die nächste Aufgabe, dann wieder die nächste und das Tempo wird immer schneller und schneller werden. Wir wollen eure Leistungsfähigkeiten unter Zeitdruck und einem längeren Zeitraum testen. Nach dieser Aufgabenrunde werden die Ergebnisse ausgewertet. Acht Teams erreichen die nächste Prüfung am morgigen Tag, die anderen bekommen eine Teilnehmerurkunde. Wir wissen, dass das viel Druck ist, aber die Auszeichnung, die ihr hier bekommen könnt, könnten euch in Bewerbungen bei hochangesehene Schulen weiterbringen und dass muss seinen Preis haben. Heute Abend gibt es in dem großen Gemeinschaftssaal noch ein Treffen. Dort könnt ihr auch Teilnehmer:innen der letzten Jahre kennenlernen und extra kniffelige Aufgaben lösen, nur dann ohne Druck. Wir haben auch ein paar Programmierungen und Systeme für Mathematik, die ihr exklusiv nützen dürft.

So, jetzt habt ihr noch fünft Minuten. Trinkt was, macht euch locker, findet eure Konzentration wieder und macht euch bereit für die erste Aufgabe, die gleich an der großen Wand vor euch erscheinen wird."

Mit diesen Worten entfernte sich der Professor für Mathematik von dem Mikrofon. Dieses mal gab es aber keinen lauten Applaus, stattdessen durchströmte angespanntes Atmen den Raum, das mich von allen Seiten wie ein kalter Wind traf. Ich spürte, wie ich dagegen ankämpfte, mich an dieses so ehrliche Vertrauen klammerte, aber es war schwierig. Gegenüber all den Zweifeln war ich so klein.

Eine warme Hand lag plötzlich auf einem meiner Beine und als ich hinsah, zog sie sich auch wieder zurück. Ich blickte zu Noah, der mich mit einem Nicken ansah. Seine Augen sagten so viel. Du schaffst das, glaub daran, was ich dir gesagt habe, glaub an dich. Ich erwiderte sein Nicken und wollte ihm genau das selbe Gefühl geben.

Und dann ging es los.

Bei der ersten Aufgabe war ich zu nervös, weshalb Noah anfing. Er begann die Aufgabe schriftlich zu berechnen, seine Hand fuhr mit dem Stift locker über das Papier und seine Augen nahmen aufmerksam jedes Wort, jeden Buchstaben, jedes Zeichen und jede Zahl auf. Und als er dann kurz zögerte, sprang ich ein. Das war der Moment, in dem ich die Bedeutung von Mathe wiedergefunden hatte: die Einfachheit, die Logik, das Wissen, dass es fast immer eine Lösung gab, geben muss.

Die nächsten drei Stunden sahen wir zwischen der Wand, an der die Aufgaben nach und nach erschienen, und unseren leeren, weißen Blättern hin und her, die sich langsam mit der Handschrift von Noah und mir füllten. Es gab Aufgaben, über die wir manchmal schmunzeln mussten, aber ebenso Aufgaben, bei denen wir nicht weiter kamen. Gab es so einen Fall, machten wir uns eine kleine Randnotiz und versuchten, an anderen Aufgaben zu arbeiten. Doch meisten war da die Zeit eh schon vorbei und wir konzentrierten uns auf die nächste. Wir hatten also nicht alles bearbeiten können, aber alles in allem war ich zufrieden.

Bis zum Abend werden die Aufgaben ausgewertet sein... noch ein paar Stunden. Aber egal wie das Ergebnis ausfallen wird: ich war glücklich. Als wir alle von unseren Stühlen aufstanden, sah ich zu Noah.

Plötzlich überschwemmte diese Wärme, die ich für ihn empfand, jegliche Gedanken über Mathematik und breitete sich in jedem Teil meines Körpers aus. Ich griff nach seinem Arm, zog ihn durch die Masse und brachte uns, ohne ein Wort zu sagen, Richtung Zimmer. Die Tür öffnete sich wie immer mit einem Summen und wir gingen hinein. Dieser Moment war eine wundervolle Mischung aus Erleichterung, plötzlichem Mut, Risikobereitschaft und diesem umwerfenden Drang, ihn zu küssen. Noah hatte mir geholfen, er war derjenige, der mir zuhörte und mich auf eine Weise verstand, die mich bewegte. Ich legte meine Arme auf seine Schultern ab und sah ihm tief in die Augen... in die Augen, auf die Lippen, in die Augen, auf die Lippen... Mit einem leichten Druck wippte ich uns hin und her, führte uns Richtung Bett, fühlte dieses konstant intensive Gefühl in mir, das immer größer wurde. Meine Wangen wurden warm, ich wollte meine Augen für keine Sekunde lang mehr schließen und suchte in seinen das Gefühl, das in mir war. Diese wenigen Zentimeter zwischen ihm und mir erweckten eine riesige Sehnsucht, ich konnte ihm nicht nah genug sein. Meine Lippen öffneten sich und erwarteten seine. Küss mich, schrie dieses eine Gefühl ganz laut in mir. Küss mich, küss mich, küss mich. Bitte küss mich einfach.

Doch er schien nichts von all dem zu fühlen, nicht in diesem Moment. Er wendete seinen Kopf ab und ging einen Schritt zur Seite, sodass ich meine Arme von ihm fallen ließ. Auch wenn es bestimmt nicht so von ihm gemeint war, fühlte ich mich fallen gelassen. 

„Sorry", flüsterte ich und räusperte mich. „Nicht der richtige Ort, ich weiß." Noah nickte leicht, aber ich hatte das plötzliche Gefühl, dass es noch etwas anderes war. Wohin war seine Lockerheit verschwunden? Warum war er angespannter als noch Stunden vor der Prüfung? Ich musterte ihn, wusste jedoch nicht, was ich sagen sollte. Immer wenn wir mit Worten nicht weiter kamen, kamen wir uns näher und die Gefühle und Berührungen zwischen uns kommunizierten in Stille miteinander. Aber jetzt wurde mir klar, dass es Momente gab, in denen nur klare Worte helfen konnten. Doch ich fand diese Worte nicht, weil ich keine der Gefühle verstand.

„Ich wollte eigentlich noch duschen gehen", sagte Noah dann und sah kurz Richtung Badezimmer Tür. „Wann treffen wir uns eigentlich mit diesem Typen?"

„Er heißt Lucas. Um 19 Uhr gibt es die Ergebnisse, danach wollten wir uns treffen."

„Okay."

„Okay", antwortete ich ebenfalls. Dann ging Noah zögerlich einen Schritt nach vorne und blieb stehen. Ich dachte kurz, dass er sich zu mir drehen würde und sofort kam die Wärme wieder in mir auf. Aber er ging doch weiter und ich hörte nur noch, wie die Badezimmer Tür hinter mir ins Schloss fiel.  

||nolin|| zarte kontrasteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt