11 - Beschämung

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Wie sollte sie das nur erklären? Sie hatte keine Ahnung. Und sie hatte die vage Ahnung, dass sich die Sozialarbeiterin höchstens zu einem Aufschub bewegen lassen würde. Also würde sie es erzählen müssen. Sie war so müde. Jede Nacht hielten sie die widersprüchlichen Gefühle wach, die sie empfand und die sich jeden Tag verstärkten.

Sonst kam sie besser mit ihren restlichen Pflichten zurecht und dem Schlafmangel, der sich damit ergab. Da schmerzten ihre Glieder so sehr, dass sie einschlief, kaum dass ihr Kopf das Kissen berührte. Doch jetzt fand sie nicht einmal dann in den Schlaf. Sie hatte nicht mal die Kraft, dagegen zu protestieren, dass sie den Parasiten noch zusätzlich etwas in den Rachen stopfen sollte. Aber sind sie Schmarotzer oder nur Menschen, die sich nach einem Zuhause sehnen? Die geduldet in der Fremde ausharren? Ich bin mir nicht mehr sicher. Ihre Augen erzählen so viel. Selbst die der Kinder sind zu ernst.

Ein Seufzen entwischte ihr und sie strich sich über die Stirn, ehe ihr Blick sich auf sein Gesicht klebte. Irgendwie schien es leichter zu sein, ihm zu erklären, warum sie der Forderung nicht nachkommen konnte. „Ich verdiene kein Geld. Nicht wirklich. Ich bekomm ein bisschen Taschengeld, klar. Aber das reicht nicht, um Essen für so viele zu kaufen. Ich hab Haushaltsgeld, doch das ist zum Einkaufen für Vati, Joseph und für mich. Das kann ich nicht nehmen."

Sein kaum merkliches Nicken milderte die Scham, die ihre Ohren zum Brennen brachte. Bestimmt waren sie knallrot. Sie hasste es, dass sie sich röteten und preisgaben, wie sie fühlte. Doch damit musste sie sich wohl genauso abfinden wie mit der Tatsache, dass Frau Lothar sie mit ihrer Forderung in die Ecke gedrängt hatte. „Das ist klar, Eva. Du arbeitest unentgeltlich?"

Eva ließ ihren Blick zu der Sozialarbeiterin wandern, biss sich auf die Lippen, ehe sie nickte und mit den Schultern zuckte. Sie wollte die Fragen nicht beantworten, die sich auf deren Gesicht abbildeten. Trotzdem ahnte sie, dass sie keine Wahl hatte. Dennoch weckte die Entrüstung der Heimleitung ihren Widerstand. Was sollte falsch daran sein, dass sie zu ihrer Familie stand? „Ja, na klar. Sie sind meine engsten Vertrauten, da verlangt man kein Geld, oder?"

Da Frau Lothar eine Augenbraue lüpfte und sie lediglich anschaute, drehte sie ihr Gesicht wieder ihm zu. Es war wirklich leichter, ihn anzusehen. Seine Gesichtszüge waren neutral geblieben, während sie mit ihm gesprochen hatte. „Vati könnte es sich auch nicht leisten, mich zu bezahlen. Nicht seit die Menschen lieber einen der neuen Dönerimbisse und Pizzabuden ansteuern, die jetzt so zahlreich im Viertel öffnen. Da sind Graupensuppe mit Kasseler und Kohlrouladen nicht mehr gefragt."

Da sich nun auch Mitgefühl in seinem Blick manifestierte, schaute sie auf die Tischplatte. Sie war so müde. Was wahrscheinlich noch begünstigte, dass sich all die Panik vor dem, was kommen würde, verstärkte. Sie schloss die Augen und wünschte sich einmal mehr, dass ihr Vater anders dachte. „Wir können keinen neumodischen Quark bieten, nach dem die Leute so gieren. Aber selbst wenn doch, würde mein Vater sich weigern, ihn zuzubereiten. Also gehen wir den Bach runter."

„Weswegen du einen Dönerladen ausgesucht hast, um das Schaufenster einzuwerfen?" Automatisch nickte Eva, ehe ihr Blick zu der Sozialarbeiterin wanderte. Ihre Brust schnürte sich schmerzhaft zu, während sie versuchte, die Verzweiflung abzuschütteln, die sie in diese Situation gebracht hatte.

„Ich dachte, wenn ich ihm Angst mache, ihm zeige, dass er nicht willkommen ist, sucht er sich einen anderen Standort. Aber es hat nicht geklappt. Im Gegenteil, er hat noch mehr Kunden, weil alle sehen wollen, welcher arme Para... AUSLÄNDISCHE MITBÜRGER von der bösen Deutschen angegriffen wurde, so wie es in der Zeitung stand." Erneut bildete sich ein schaler Geschmack in ihrem Mund und sie schluckte hektisch gegen die Bitterkeit an, die sie füllte.

Eine Bewegung vor ihr erregte ihre Aufmerksamkeit und ihr Blick zuckte zu den Fingern, die sich nahe ihrer Hand platziert hatten. Irritiert wanderten ihre Augen zum Gesicht ihres Besitzers, der sie mit ernstem Ausdruck musterte. Hastig wich sie seinen stechenden Iriden aus und senkte ihn auf die Stelle, wo sich ihre Hände fast berührten. Er müsste nur die Finger etwas strecken, damit sein Mittelfinger auf meinem liegen würde.

Anlaufnehmen - Fliegenlernen - DurchstartenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt