19 - Beklommenheit

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„Ins Auto, Eva!" Josephs Stimme klang wie ein Peitschenknall zu ihr und sie schluckte heftig. Ihr Herz klopfte so brachial gegen ihren Brustkorb, dass sie es jeden Moment auskotzen würde. Ihre Augen huschten zu seinen Stiefeln. Weiß. Sie hatte auf Schwarz gehofft. Doch diese Farbe hatten die Schnürsenkel ihres Bruders selten. Zumindest sind sie nicht rot.

Wortlos schüttelte sie den Kopf. Woraufhin sich Josis Gesicht noch mehr verdunkelte. Der pure Hass leuchtete aus seinen Augen und sie merkte, wie sich das Zittern in ihr verstärkte. Mit jedem Schritt, den er näherkam. „Hast du nicht gehört?! Ich sagte, ins Auto!"

„Josi. Ich hab alles im Griff. Er geht jetzt." Ein Schauer jagte über ihren Rücken und sie versteifte sich automatisch, als Josi sich vor Rasin aufbaute. Bevor sie wusste, was sie tat, schob sie sich dazwischen. Kurz flackerte der Blick ihres Bruders, während sich Rasins Wärme in ihren Rücken fraß. Sie bekam kaum Luft in ihre Lunge gepresst, als Joseph sie kurz fixierte und die Augen zusammenkniff. Dann schaute er wieder Rasin an.

„Steig ins Auto, Eva. Sofort!" Sein harsches Zischen brannte sich in ihr Bewusstsein und sie schluckte nochmals trocken. Irgendwie schien ihr der Speichel abhandengekommen zu sein. Dennoch schüttelte sie den Kopf. Sie konnte das nicht zulassen. Sämtliche Zellen in ihr kribbelten und sie wollte schon fast unter Josis Blick einknicken, der sie so wütend anstarrte, dass sie dachte, sie würde jeden Moment umkippen.

„Josi ... bitte. Nicht hier. Kein Ärger. Bitte." Ihr Flüstern war so leise, dass sie selbst dachte, sie hätte sich verhört und sie hätte diese Worte nicht laut ausgesprochen. Doch da Josephs Augen nun Blitze abschossen und sich sein Gesicht zu einer Fratze verzog, war sie sicher, dass sie es getan hatte.

„Ich wiederhole mich nicht nochmal." Die Drohung, die in seiner Stimme mitschwang, jagte ihr erneut einen kalten Schauer über den Rücken und ihre Hände wurden schwitzig. Schnell hob sie diese und legte sie auf die Brust ihres Bruders. Auch er zitterte, sie spürte es deutlich. Wie sehr er sich zusammennahm. Wie sein Herz raste.

Irgendwie gab ihr dieser Fakt die Stärke, den Kopf zu schütteln. „Ich möchte hier keinen Ärger, Josi. Bitte. Ich kann nicht ... ich will nicht, dass schon wieder die Bullen auftauchen und dich abführen, ok?! Nicht jetzt, wo ... Ich gehe ins Auto, wenn du mit mir kommst."

Den Stoß, der sie umwarf, sah sie nicht kommen. Sie hatte keine Chance mehr, sich zu stabilisieren. Erschrocken knallte sie schmerzhaft auf die Seite und schaffte es gerade noch, die Hände auszustrecken, um den Sturz abzufangen. Geschockt schnappte sie nach Luft, während Schmerz von ihren Fingern durch ihre Arme vibrierte. Doch ihr Gesicht fuhr herum, als sie hörte, wie der Maschendraht klirrte, der das Gelände umzäunte.

Rasin war zwischen dem Drahtgebilde und ihrem Bruder gefangen, der seinen Unterarm an Rasins Kehle drückte und ihn hasserfüllt anstarrte. Der Migrant schaute ihren Bruder jedoch gleichmütig an. Was Joseph noch wütender machen wird. „Ich rate dir, deine dreckigen Finger von ihr zu lassen. Sie ist eine aufrichtige Deutsche. Du bist ein Nichts. Verstanden?!"

Als der Migrant nicht antwortete, drückte sich Joseph mit seinem Gewicht offenbar noch mehr gegen ihn, denn kurz hörte sie Rasin röcheln. Seine Hände hoben sich und in ihr krampfte sich alles zusammen. Schnell versuchte sie, sich aufzurappeln. Rasin wurde blass und in ihrem Kopf überschlug sich alles. Sie würde einen Herzinfarkt bekommen. Bestimmt. Doch das war nicht wichtig. Sie sprang vor und riss an Josephs Arm, um Rasin wieder die Möglichkeit zu geben, zu atmen. Aber ihr Bruder war zu kräftig, um etwas ausrichten zu können. „Ich habe dich nicht gehört!"

„Ver ... verstanden." Rasin keuchte die Worte mehr, als sie zu sprechen, und Eva taumelte, als die Kraft in Josephs Arm abrupt nachließ und er den Migranten hämisch angrinste.

„Gut." Sie traute ihren Augen nicht, als ihr Bruder Rasin nun auf die Schulter klopfte. „Dann verstehen wir uns ja. Eva, ab ins Auto." Wie betäubt blieb sie stehen und sah ihrem Bruder nach, der sich nun abwandte und pfeifend zurück zum Wagen schlenderte. Dann flogen ihre Augen zu Rasin, der ihrem Blick relativ ruhig begegnete. Er wirkte fast schon erleichtert. Als hätte Josi ihn nicht gerade angegriffen und ihn fast erwürgt. „Eva?"

„Ja. Ja, ich ... ich bin schon da." Ihre Knie zitterten immer noch so sehr, dass sie das Gefühl hatte, Pudding in den Beinen zu haben. Auch ihre Finger bebten so stark, dass sie Schwierigkeiten hatte, am Griff zu ziehen und die Beifahrerseite ihres alten VW Polos zu öffnen.

Als sie es endlich geschafft hatte, ließ sie sich unbeholfen auf den Sitz gleiten und schon grölte ihr Josis Lieblingsband entgegen. Ein Blick in sein finsteres Gesicht zeigte ihr jedoch, dass die Sache nicht ausgestanden war. Diese Vermutung bewahrheitete sich, als Joseph die Zündung startete, aus der Parklücke jagte, noch ehe sie den Sicherheitsgurt angelegt hatte. Panisch stemmte sie die Hände auf das Armaturenbrett, als ihr Bruder hart bremste und den Vorwärtsgang krachend einlegte, um die – zum Glück – wenigbefahrene Straße entlang zu heizen.

Ein Schauer überlief sie, als er die Musik leiser drehte und den Kopf zu ihr wandte, um sie anzufunkeln. „Ich sollte dich lehren, was Gehorsam bedeutet."

Endlich schaffte sie es, den Gurt in die Schnalle zu klicken und schloss kurz die Augen. Sie konnte dem nicht standhalten. Nicht heute, wo sie ohnehin kaum mehr Kraft hatte. „Wie kannst du es wagen, meine Autorität vor so einem Mistkäfer zu untergraben und mich anzubetteln, ihn zu verschonen?"

„Ich ... ich hab dir gesagt warum. Ich möchte nicht..." Sie krallte ihre Fingernägel fest in das abgewetzte Polster des Sitzes, als Joseph plötzlich hinter einem anderen Wagen ausscherte und diesen mitten in der Ortschaft überholte. Sie hasste es, wenn er so aufgebracht war, dass er fuhr, als wäre er ein Himmelfahrtskommando. Sie räusperte sich und atmete tief durch, als Josi wieder einscherte. „Ich möchte nicht, dass du ins Gefängnis gehst. Diesmal vielleicht für immer."

„Ach ja? Hat nichts damit zu tun, dass du deine Zeit mit diesen Parasiten verbringst und weich wirst?" Ihr Blick huschte zu ihm und sie bemerkte, dass er sie ebenfalls anschaute. Jetzt kapierte sie. Er machte sich Sorgen. Sie grub sich förmlich in seine gefurchte Stirn und der Falte zwischen den geraden, wohlgeformten Brauen.

Sie konnte nicht antworten. Nur den Kopf schütteln. Sie wusste, dass sie ihm ins Gesicht log. Dennoch schien es Josi zu beruhigen, denn er ging etwas vom Gas und wirkte weniger gehetzt, als er wieder auf die Straße sah. Doch ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen, während sie den Blick abwandte und aus dem Fenster stierte. Sie war so müde. Schon die Aussicht, dass sie ihren Bruder weiter anlügen musste, erschöpfte sie unfassbar.

Während sich Tränen in ihren Augen sammelten, hörte sie: „Das ist gut. Ich möchte dich nicht genauso verlieren wie Mutti. Du bist auch so empfindsam wie sie."

Still nickte sie und biss sich auf die Zunge, bis sie Blut schmeckte, um nicht loszuheulen. Sie würde das überstehen. Nur ein paar Monate. Dann würde sich alles normalisieren. Doch sie musste sich endlich wieder in den Griff bekommen. So lange musst du die Gefühle abwehren, die dich martern. Du hast sie, egal wie oft du sie abstreiten möchtest.

Wie ihr das gelingen sollte, wusste sie nicht. Denn noch immer prickelte die Narbe, über die Rasin gestrichen hatte. Weiterhin hüpfte ihr Herz bei dem Gedanken daran, wie er sie angesehen hatte. Ihre Finger wurden wieder schwitzig, als sie sich an die Wärme erinnerte, die sich in ihr ausbreitete, wann immer er sie berührte.

Wie ein reißender Strom rissen Josephs Worte an ihrem Bewusstsein, der ihr abermals erklärte, wie gefährlich der Umgang mit den Parasiten für sie war. Weil sie in Gehirne krochen und sich dort festsetzten. Dass sie sich davor schützen musste. Sie schloss die Augen und merkte, wie ihr eine Träne entkam, als sie sich stumm eingestand, dass es dafür schon zu spät war.

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