Sie sah, dass der eine Handbewegung zu ihr machte, und erstarrte automatisch. Ihre Muskeln spannten sich so fest an, dass sie zitterten, und sie bekam keine Luft in ihre Lunge gepresst. Was dem vor ihr wohl auffiel, denn ein irritierter Ausdruck erschien in seinem Blick und er schob schnell seine Hand in seine Jeans. Während er sich räusperte, wich sie einen Schritt zur Seite aus und schalt sich eine Idiotin. Noch offensichtlicher konnte sie kaum zeigen, was in ihr vorging.
„Hier wohnen die Männer, die allein sind. Ich kann dir seigen nur mein Simmer, weil alle verschließen sie. Manchmal sind hier Dieben. Nicht oft, weil sich Frau Lothar sofort kümmert, wenn so etwas passiert. Wenn du aber Simmer sehen willst, muss ich meins seigen." Offenbar schien er auf eine Zustimmung von ihr zu warten, denn er schaute sie nur an. Erst als sie nickte, wandte er sich ab und ging durch die Doppelglastür, die sich vor ihnen befand.
Zittrig holte sie Atem und folgte ihm in den schmalen Gang, während sie automatisch wieder die Nase rümpfte. Hier stank es noch widerwärtiger als im Rest des Gebäudes. Was wohl an dem Müllbeutel lag, der vor einer der Türen abgestellt worden war, die sich rechts und links um den Flur säumten. Außerdem standen hier Schuhe, die aussahen, als würden sie ebenfalls ihren Teil zu dem Mief hier beitragen. Den stört das anscheinend nicht.
Sie war so konzentriert auf die Umgebung, dass sie fast in ihn hineinrannte, als er abrupt stehenblieb. Hastig wich sie wieder einen Schritt zurück und erneut zeigte sich dieser fragende Ausdruck auf seinem Gesicht. Sie fixierte ihre Augen auf einen Riss in der Wand ihm gegenüber und schluckte, als er wortlos einen Schlüssel aus seiner Jeanstasche zog und die Tür vor ihm aufschloss. Dann ging er ein paar Schritte zur Seite.
Irritiert wanderte ihr Blick zu seinem Gesicht zurück. Gelassen schaute er sie an und sie schob wieder ihr Kinn vor. Wer war er schon? Er lebte von ihrem Geld, nicht? Also hatte sie mehr Recht hier zu sein, als er. Automatisch richtete sie sich auf und trat einen Schritt vor.
Trotzdem blieb sie auf dem Flur stehen und streckte nur den Kopf in das geöffnete Zimmer. Immerhin kam er aus dem arabischen Raum und da wurden Frauen am helllichten Tag vergewaltigt. Und sie war zudem blond. Darauf standen die am meisten. Davor hatte sie Joseph heute Morgen noch gewarnt. Wobei sie wenigstens nicht sehr weiblich war. Die wollten ja Pummelchen wie diese Frau Lothar. Das hatte Joseph auch gesagt. Und der Parasit hatte bestätigt, dass er arabisch dachte, also war es wohl besser, auf der Hut zu bleiben.
Wobei sie zugeben musste, dass sie gelogen hatte. Man verstand ihn erstaunlich gut. Das hatte sie nicht erwartet und das verwirrte sie. Wenn sie sich an die Dinge erinnerte, die in ihrem Umfeld über Parasiten geäußert wurden, überraschte es sie, wie normal der wirkte. Ein Räuspern machte sie darauf aufmerksam, dass sie blicklos in den Raum vor sich starrte und prompt riss sie sich zusammen und nahm das Mobiliar in Augenschein.
Zuerst sah sie ein Waschbecken, auf deren Ablage eine Kulturtasche stand und ein Spiegel darüber hing. Daneben lag eine Matratze am Boden und Eva runzelte automatisch die Stirn. Bekamen die hier keine Betten? Oder warum lag die am nackten Fliesenboden? Als Nächstes bemerkte sie, wie sauber es hier war. Es roch frischer und die Decken und Kissen auf der provisorischen Schlafstätte waren ebenfalls gefaltet.
Ihre Augen wanderten weiter und sie erhaschte einen Blick auf ein mit Lesestoff gefülltes Bücherregal und einen Sessel, neben dem eine Stehlampe befand. Eine Kommode und ein kleiner Tisch samt Stuhl rundeten die Einrichtung ab. Spartanisch war das Erste, was ihr dazu einfiel. Aber das muss auch reichen.
Ihr Blick wanderte zurück zum Regal. Sie hätte gerne gesehen, was er las. Doch das konnte sie auf die Entfernung nicht erkennen und sie verbot es sich, weiter hineinzugehen. Stattdessen trat sie einen Schritt zurück und nickte. Erst jetzt registrierte sie, wie nah er ihr gekommen war. Falls er merkte, dass sie zusammenzuckte, als er ihren Arm streifte, zeigte er es zum Glück nicht.
Er schloss nur seelenruhig die Tür ab, während sie versuchte, ihre Atmung zu regulieren und ihren Blick wieder auf den Müllbeutel fokussierte, der weiterhin seinen abartigen Gestank abgab. Ihr wurde fast übel. Das Haus war ein Schweinestall. Aber gut, was sollte man von Halbwilden erwarten?
„Unmöglich. Wieso kiennen die das nicht aufreumen? Stinkt immer. Eklig. Wenn Frau Lothar das sieht, wird sie ergerlich. Hat sie genug zu tun, muss sie sich nicht kiemmern um sowas." Ihre Augen flogen zu seinem Gesicht, weil seine Stimme so barsch klang und beobachte, wie er den Müllbeutel aufsammelte.
Verdutzt folgte sie ihm aus dem Wohnflügel, als er sie darum bat, hielt jedoch Abstand. Dass er sich daran störte, verwirrte sie noch mehr. Ebenso wie die Tatsache, dass sich sein Gesicht bereits wieder aufgehellt hatte, als er auf die andere gläserne Flügeltür zum rechten Gebäudetrakt deutete. „Hier wohnen die alleinstehenden Frauen. Es ist ein kleinerer Bereich, weil wenige sind allein. Hey, Aliya, wo ist deine Mama?"
Sie fuhr herum und entdeckte ein Mädchen im Alter von ungefähr zwei Jahren, das schüchtern lächelte, ehe es mit den Schultern zuckte. Im Augenwinkel bemerkte sie, dass der in die Hocke gegangen war und die Arme nach dem offenbar unverhofften Gast ausstreckte, nachdem er den Müllbeutel fallengelassen hatte. Eva runzelte die Stirn und fragte sich, was es allein hier machte, wenn es nicht hierhergehörte, als sie Schritte auf der Treppe hörte. „Aliya! Wo bist du?"
Danach folgte ein Schwall unverständliches Kauderwelsch und sie bemerkte, dass das Mädchen sich ein bisschen duckte, obwohl es spitzbübisch lächelte. Eva wich ihm aus, als es hinter den Kerl flüchtete. Wobei der Kopf hinter seinem Rücken hervorblitzte und sich sein Blick zur Treppe wandte. „Bist du entwischt deiner Mama, farascha?"
Das Grinsen auf dem Gesicht des Mädchens wurde noch breiter, während am Treppenabsatz eine junge Frau von etwa 21 Jahren mit weitem Rock, einem Rollkragenpullover, einer Strickjacke und einem Kopftuch erschien. Eigentlich ist sie ganz hübsch. Wenn sie keine von denen wäre und sich so vermummen würde.
Sie bemerkte, wie er sich wieder erhob und lächelte. „Hier ist dein Außenreißerin, Sya." Zur Antwort entwich ein Seufzen über die Lippen der Vermummten, ehe deren Blick zu ihr wanderte. Hastig biss Eva sich auf die Unterlippe und schluckte den Kommentar, dass es bestimmt nicht Außenreißerin heißen würde. „Das ist Ewa. Ab heute hilft sie hier."
Seine Augen glitten zu ihr und sie wollte sich unter dem Blick der drei Halbwilden winden, weil sie ihr so unangenehm waren. „Das ist Sya, Aliyas Mama. Leben sie hier in Heim in Etage mit Gemeinschaftsräumen."
„Hm", machte sie nur und unterdrückte den Impuls, von einem Bein aufs andere zu treten. Doch der Kerl wandte sich schon wieder der Frau zu. „Wieso ist Aliya nicht im Kindergarten? Noch krank?"
Sofort riss Eva die Augen auf und ging außer Reichweite. Die war krank und lief hier frei herum? Das war ein Ding der Unmöglichkeit! Immerhin hatten die Krankheiten, die hier längst ausgerottet worden waren! Wieso habe ich nicht mehr dran gedacht, als ich meinen Dienst hier angetreten bin, verdammt?
Plötzlich verzog sich das Gesicht des Mädchens, bevor es gequält aufschluchzte. Schlagartig zog eine übelriechende Wolke zu ihr und Eva starrte sie an, während sie den Würgereiz zu unterdrücken versuchte. Sie würde hier unter keinen Umständen aufs Klo gehen. So viel war sicher. Wer wusste schon, wie verseucht die waren.
„Oh, ya albi, wein nicht. Ich weiß, dass tut alles weh." Die Halbwilde nahm ihren Nachwuchs hoch und strich ihm tröstend übers Haar, bevor sie sich zu dem Kerl drehte. „Muss ich wohl mit Frau Lothar reden, dass doch kommt Arzt. Weiß ich nicht mehr, was ich kann machen." Der Typ machte ein betroffenes Gesicht, während das Mädchen leise weinte. Die Vermummte seufzte nochmal und schob sich die Kleine auf die Hüfte. „Komm, ya habibti, machen wir sauber dich. Dann wird Schmers gleich besser."
Der Migrant wechselte einen bekümmerten Blick mit der Mutter des Mädchens und Eva bemerkte, dass er ihm leicht übers Haar strich. „Bist du bald gesund, farascha. Dann wir spielen, ok?"
Das Mädchen wischte sich unbeholfen über die Wangen und nickte leicht. Anschließend hörte Eva, wie die Mutter einen Dank flüsterte und mit einem traurigen Lächeln die Treppe wieder hinunterlief. Der Blick des Kerls wanderte zu ihr, ehe er seufzte und sich durch sein kurzes Haar strich. Wieso zum Teufel rührt mich das?!
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Anlaufnehmen - Fliegenlernen - Durchstarten
Teen FictionEine Reise in eine unbekannte Welt mit überraschenden Erkenntnissen wartet auf die 16-jährige Eva, als sie ihre Sozialstunden antritt, doch bevor sie sich versieht, stellt sie die Strafarbeit vor große Probleme: Wie soll sie mit den aufkeimenden Gef...