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Seufzend wälzte sich Rasin in seinem Bett herum. Eva sorgte für immer mehr Unruhe in ihm, so wie sie seine Gedanken bevölkerte. Aber er konnte sich nicht dagegen wehren. Schon gar nicht, seit sie ihre Abwehr öfter fallen ließ. Es rührte ihn unfassbar, wie sie jedes Mal selbst darüber erschrak.

Heute war sie völlig abgekämpft schließlich doch noch im Gemeinschaftsraum aufgetaucht. Sofort hatte er sie gemustert, zu seiner Erleichterung wirkte sie jedoch nicht, als wäre sie verletzt. Oder als habe sie zusätzlichen Ärger bekommen.

Man merkte lediglich, wie gehetzt sie war. Auch die Tatsache, dass sie am Telefon geweint hatte, hatte sie offenbar gemartert. Aber ansonsten war ihr Blick seinem relativ klar begegnet. Dennoch hat sie sich heute etwas abseits von mir aufgehalten, während wir im Garten das Laub gerecht haben.

Erneut stahl sich ein Ächzen aus seinem Mund. Er musste sich eine Beschäftigung suchen. Nur im Bett zu liegen und von Eva zu träumen, brachte die Zeit nicht rum. Außerdem hallten die Erinnerungen an seine Familie seit dem gestrigen Tag wieder mehr durch seine Gedanken. So sehr, dass er in der Nacht schweißgebadet aufgewacht war, während ihre Schreie durch seinen Kopf gegeistert waren.

Er merkte, wie er sofort aufs Neue zu zittern begann und verdrängte die quälenden Bilder. Stattdessen schob er sich vom Rand seiner Matratze und erhob sich. Suchend sah er sich in seinem Zimmer um. Die meisten Dinge hatte nach und nach gebraucht gekauft. Das Bücherregal zum Beispiel. Reflexartig trat er an das Möbel heran und musterte seinen Bestand. Die Bücher hatten ihm wirklich geholfen, an seinem Deutsch zu arbeiten. Nicht zuletzt deswegen, weil er sich immer eine arabische Ausgabe und eine deutsche Fassung zugelegt hatte, sofern er beides ergattern konnte.

Dabei war er nicht sonderlich wählerisch gewesen, was das Genre anging. So reihten sich neben Thriller auch ein paar Liebesgeschichten. Er musste zugeben, dass er über den Inhalt der Letzteren oft geschmunzelt hatte, während er sie studierte. Trotzdem hatten ihn alle einen Schritt weiter gebracht, sich in diesem fremden Land zu integrieren, das er zuvor nur aus Erzählungen gekannt hatte. Ebenso wie den restlichen Westen.

Seine Gedanken wanderten automatisch zu den Geschichten zurück, die seine Eltern seinem Bruder und ihm immer wieder über den Westen erzählt hatte. Schier unglaublich war ihm damals eine Welt vorgekommen, wo Frauen ihre Gesichter nicht verschleierten, wo sie sich frei bewegen konnten und man sie angeblich auch auf Fahrrädern oder hinter dem Lenkrad eines Wagens sitzend vorfand. Wo Bildung kein Privileg, sondern Alltag war. Wo Wissen Macht bedeutete und keine Gefahr war. Eine Gefahr, der meine Familie zum Opfer gefallen ist.

Erneut drang ein Seufzen über seine Lippen und er riss seinen Blick gewaltsam von den Buchrücken los, die er betrachtet hatte. Stattdessen ließ er seine Augen über sein restliches Mobiliar schweifen. Auch der Sessel hatte seine besten Tage hinter sich: Der Stoff war an manchen Stellen schon so fadenscheinig, dass er das Innere der Polsterung erahnen konnte, doch er mochte das Sitzmöbel.

Es war einfach urgemütlich, sich dort mit einem Glas Tee und einem neuen Schmöker niederzulassen und die Zeit zu vergessen, weil man sich in der Geschichte verlor. Dann konnte er zumindest kurzfristig den marternden Fragen entkommen. Hatte er hier eine Zukunft oder musste er seinem Tod entgegensehen? Würde er jemals gut genug sein, um als wertvolles Mitglied der deutschen Gesellschaft zu gelten, oder würde er ewig der Niemand bleiben, der wie eine Zecke von seinem Wirt ernährt wurde? Und wie lange würde es noch dauern, bis diese Unwägbarkeiten geklärt waren?

Öfter als ihm lieb war, stellten sich ihm diese Fragen. Und jedes Mal – wie auch heute – drängte er sie zurück in eine Ecke seines Kopfes. Wieso sollte er sich damit beschäftigen, wenn er ohnehin noch nicht wusste, was auf ihn zukam? Das konnte er genauso, wenn es so weit war. Trotzdem bemerkte er, wie sich erneut Unruhe und Ungeduld in ihm breitmachte.

Es waren jetzt fast drei Jahre, seit er aus dem Versteck im Boden ihres Wohnzimmers geschlüpft und neben seinen Verwandten in die Knie gegangen war. Seit er sich seine Hand vor dem Mund gedrückt hatte, um die Schreie zu ersticken, die hervorbrechen wollten. Seit er wieder zurück ins Versteck stieg und sich eine der gepackten Taschen nahm, in der das Notwendigste verstaut war. Vor allem Geld, ein paar Tauschwaren. Klamotten, ein bisschen Essen und ein wenig anderer Tand, den sie für wichtig erachtet hatte.

Sein Blick wanderte zu dem abgegriffenen Modellauto, das vor den Büchern seinen Platz gefunden hatte. Sofort zog sich sein Herz zusammen und das Atmen fiel ihm schwerer. Erinnerungen, wie sein Bruder und er damit in der ruhigen Seitenstraße spielten, machten sich in ihm breit und er schüttelte den Kopf, um die Bilder zu verscheuchen. Es gelang ihm nicht. Hastig biss er sich auf die Unterlippe, als der Knoten in seinem Hals platzen wollte. Er wandte sich ab und beeilte sich, den Raum zu verlassen. Es ist gerade nicht gut, allein mit seinen Gedanken zu sein.

Er verschloss sein Zimmer und ging den langen Flur entlang, wobei er sich daran erinnerte, wie Eva sich hier umgesehen und die Nase gerümpft hatte. Aus ihrer Perspektive machte sein Heim bestimmt nicht viel her. Die Risse in den Wänden hatten sie zwar inzwischen schon ausgebessert, aber gestrichen hatten sie diese noch nicht. Sicherlich würde selbst der Flur freundlicher wirken, wenn sie die hellgelbe Farbe aufgetragen hatten. Doch zuvor musste dieses schmutzige Grün weiß getüncht werden.

Ob Eva wohl wieder schweigend neben ihm arbeiten würde? Oder würde sie sich mit ihm unterhalten? Würde einer der Popsongs aus ihrem Handy durch die Luft schweben, die von Sehnsucht und Wehmut erzählten? Ob sie wusste, dass sie ihm damit so viel mehr verriet, als sie es ihr bewusst war? Er zuckte nachlässig mit den Schultern. Es war nicht so, als würde er nicht jeden Krümel förmlich aufsaugen, den sie ihm zum Fraß vorwarf. Als würde er nicht alles tausend Mal analysieren, was er von ihr erfuhr.

Er trat durch die Glastür und strebte auf die Treppe zu. Schon von hier konnte er leises Gelächter hören, das zu ihm aus der Etage darunter schwebte. Sofort zuckte es um seine Mundwinkel und er beschleunigte Schritte, um zu der Quelle des Geräusches zu kommen. Mit jeder Stufe, die er hinunterstieg, wurde das Lachen lauter und er spürte, wie der Druck auf seiner Brust wenigstens etwas milderte.

Sein Blick verfing sich an den Angeln im Türstock. Eine der ersten Amtshandlungen von Frau Lothar war es gewesen, die Glastür zum Gemeinschaftsbereich aushängen zu lassen. Sie hatte strahlend danebengestanden und gemurmelt, dass dieser Flügel des Gebäudes nie mehr verschlossen sein würde. Sondern jederzeit für alle zugänglich.

Immerhin waren sie eine große, unübliche Familie. So Unrecht hatte sie da nicht. Zumindest lebten sie hier in diesem Verbund zusammen und machten alle das Beste aus der Situation, dass sie wie vertrocknetes Laub im Wind waren. Nicht sicher, ob nicht ein Sturm aufkommen und sie wieder fortgetragen wurden. Das einte sie. Sie waren alle mehr oder weniger durch die Hölle gegangen.

Sofort schüttelte er den Gedanken ab, der ihn zurücktragen wollte zu dem Moment, wo er – ohne sich nochmals zurückzuwenden – sein Elternhaus für immer verlassen hatte. Wo er sich in die Schatten der Nacht gedrückt hatte, um sich zum Hafen durchzuschlagen. Er zuckte zusammen, als Syas lautes Lachen plötzlich in sein Bewusstsein drang und ihn damit in die Realität katapultierte. Es ist vorbei, Rasin. Du bist jetzt sicher. Alles andere zeigt sich irgendwann.

Er trat durch die Tür des kleinen Fernsehzimmers und warf einen Gruß in die Runde, während er auf das Sofa zustrebte. Sya saß dort und schaute mit Nadia und Amina irgendeine Komödie. Aaliyah war offenbar schon im Bett. Wieder erklang das Gemisch des Lachens der drei Frauen und er ließ sich auf die Lehne des Sitzmöbels gleiten und seufzte automatisch. Woraufhin Syas Augen zu ihm flogen. Sie legte den Kopf schief und er krümmte sich reflexartig unter ihrem Blick. Sie konnte von allem am meisten erahnen, was in ihm vorging. „Bald, habibi. Bald wirst du wissen, ob du weiter von Eva träumen kannst."

Er runzelte die Stirn und rollte mit den Augen, als er die sanfte Belustigung im Gesicht der jungen Mutter las. Natürlich roch sie schon lange Lunte. Trotzdem zuckte er mit den Schultern und bejahte mit einem Murmeln, ehe er sich dem Fernseher zuwandte und ebenfalls zu grinsen begann, als der große Hund sich schüttelte und im gesamten Schlafzimmer seinen Sabber verteilte. „Was guckt ihr?"

„Beethoven. Dachte ich, wäre Film über den Komponisten. Aber Hund heißt so. Willst schauen du mit uns?" Er drehte ihr den Kopf zu und grinste noch breiter, als sie ihn anlächelte. Schlagartig verpuffte sein Unwohlsein und er nickte.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Feb 27 ⏰

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