17- Bedrückung

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„Es muss schrecklich gewesen sein." Ihr Flüstern klang belegt und war selbst für sie kaum zu hören. Dennoch bemerkte sie im Augenwinkel, wie er sich auf die Unterlippe biss und verhalten nickte. Sofort schluckte sie trocken. Sie verbot sich, sich vorzustellen, wie er empfunden haben musste. Wie quälend das gewesen war. Wie schwer ihm das Atmen gefallen war. Wie endlos sich die Zeit gezogen hatte. Wie...

„Weiß ich nicht, wie lange ich war in unserem Versteck. Aber als ich kam heraus, war getrocknet das Blut. Vermisse ich sie noch heute." Seine Stimme war so rau, dass sie dachte, er würde jeden Moment wieder zu weinen anfangen. Doch seine Augen blieben trocken. Stattdessen schlich sich ein trauriges Lächeln auf seine Gesichtszüge, das einen Schauer über ihren Rücken jagte. Leere blaue Iriden starrten sie an und das Brennen stieg ins Unerträgliche. Es ist nicht real. Nur Einbildung.

Hastig biss sie sich auf die Zunge, um den Kloß am Platzen zu hindern, der offenbar ihre Luftröhre zerquetschen wollte. Sie würde nicht anfangen zu heulen. Es war nicht echt. Trotzdem breitete sich das Zittern aus, das sie bereits kannte. Das sie jedes Mal befiel, wenn sie schweißgebadet aus dem Schlaf gerissen wurde. Wenn jeder Atemzug ihre Lunge versengte und sie brannten wie Lunte. Wenn sie hektisch gegen den Tränenschleier anschluckte, der fast zu dicht war, um noch etwas erkennen zu können. Wenn...

„Eva?" Ihr Kopf flog herum und sie brauchte einen Moment, um ihn wieder bewusst wahrzunehmen. Zu merken, wie der Wind sachte an ihren Haaren zupfte. „Bist du ok?"

Automatisch nickte sie und wollte selbst dran glauben, obwohl alles in ihr vehement widersprach. Doch es ging nicht um sie. Sie hatte auch keinen Redebedarf. Nicht wirklich. „Meine Mutter hat sich umgebracht. Ich habe sie gefunden. Sie hat gelächelt. Das einzige Mal, dass sie gelächelt hat. Wobei es eher eine Fratze war. Irgendwie war es eine Fratze."

Schnell biss sie sich wieder fest auf die Zunge. Augenblicklich schmeckte sie den metallenen Geschmack ihres Blutes. Was immerhin angenehmer war als der Geruch, den sie in der Nase hatte. Trotzdem wich sie seinem Blick hastig aus, als ihm die Kontrolle über seine Gesichtszüge entglitt. Jetzt brannten nicht nur sie, sondern auch seine Augen ätzten sich in ihre Haut.

„Aber ... dachte ich ... steht in Akte, dass ..." Seine Verwirrung stellte sämtliche Haare in ihrem Nacken auf und sie sprang auf die Beine, als unvermittelt Wut in ihr hochkochte.

Ihre Hände ballten sich automatisch und sie funkelte in sein fassungsloses Gesicht. „ER hat sie getötet! Es war seine Schuld! Er ..." Jetzt brach ihre Stimme unter dem Druck auf ihrer Brust und sie schloss die Augen, während ihre Wut bedauerlicherweise an Kraft verlor. „Er hat sie krankgemacht."

Bevor sie es verhindern konnte, platzte der Knoten in ihrem Hals und Tränen sammelten sich in ihren Augen. Erschrocken erkannte sie, dass es bereits zu spät war, sie zu schlucken. Ungehindert liefen sie plötzlich über ihre Wangen. Hastig wandte sie sich ab und wischte unwillig darüber. Sie konnte nichts mehr sehen und das marterte sie genauso wie die Tatsache, dass ihre Stimme ihr den Dienst versagte. Stattdessen drangen Schluchzer über ihre Lippen. Sie presste ihre Rechte auf ihren Mund und versuchte, die Laute zu ersticken, die unkontrolliert aus ihr hervorbrachen. Mama ist jetzt weg. Kein Grund zu heulen. Du bist doch keine Heulsuse, oder?

Automatisch schüttelte sie den Kopf und mühte sich, sich wieder unter Kontrolle zu bekommen. Der Druck auf ihrer Brust wog zu schwer. Schmerzte so unendlich. Plötzlich umschlangen sie Arme und sie stemmte sich gegen den Körper, zu dem sie gehörten. Würziger Meeresgeruch mischte sich mit der salzigen Note ihrer Tränen und sie schüttelte den Kopf nochmal heftiger. „Ist ok, habibti. Ist ok. Tut mir leid."

Das Flüstern brachte ihre Arme abrupt zum Erlahmen und sie sank automatisch gegen seine Brust, wo die Schluchzer noch lauter aus ihrer Kehle polterten, nachdem sie dort alles verätzt hatten. Sie spürte, wie sie die Gliedmaßen fester umschlossen, und erneut wurde sie starr, ehe sie den Kopf auf die Schulter vor sich lehnte. „Ich kann mich nicht mehr an sie erinnern. Nur verschwommen. Aber diese Fratze. Die ist noch da. Sonst ist sie weg."

Aufs Neue fegte ein Tornado durch sie und wirbelte die Trauer an die Oberfläche, die sie so lange verleugnet hatte. Während erneut Schluchzer aus ihr brachen, grub sie die Finger in die Oberarme, die sie hielten. Sie spürte, wie seine Hand sanft über ihren Rücken streichelten, und schwach blitzte eine Erinnerung in ihr auf.

Abrupt machte sie sich von ihm los und schluckte, als die blauen Augen, die ihren so ähnlich waren, immer deutlicher wurden. Sie lagen in einem feinen Gesicht und musterten sie besorgt. Blondes Haar fiel in weichen Wellen um die Wangen und kleine Hände – ihre – hatten sich um einzelne Strähnen gewickelt. Ihr Bauch zwickte. Sie weinte. Alles in Eva zog sich zusammen, während sie sich erlaubte, ihr Bewusstsein immer tiefer in diesen Moment gleiten zu lassen.

Doch dann wandelte sich der Ausdruck der Augen, die sie fixierten. Sie wurden starr und das Licht, das sich in den Pupillen gespiegelt hatte, verglomm. Stattdessen breitete sich das altbekannte Brennen in ihr aus. Ihre Lunge wollte ihren Dienst versagen. Der stechende Geruch flutete sie und erschwerte ihr das Atmen. Automatisch drang ein Wimmern aus ihrem Mund und sie rieb über ihre Handflächen. Sie konnte dem nicht standhalten, der Schmerz war zu heftig. Ein Schrei bildete sich in ihrer Kehle und rollte über ihre Zunge, ehe er...

„Eva." Verwirrt blinzelte sie und der Laut erstarb auf ihren Lippen, als das Rütteln ihrer Schultern in ihr Bewusstsein drang. Mit rasendem Herzen schaute sie in die besorgten dunklen Augen, die ihr aus einem goldfarbenen Gesicht unter dichten Brauen entgegenstierten. „Es ist ok. Vergangenheit."

Sie nickte reflexartig. Dennoch pochte ihr Herz weiterhin gewaltsam gegen ihren Brustkorb und sie spürte, wie sie zitterte. Auch der Schmerz ließ nicht nach. Im Gegenteil: Er loderte immer wieder auf und sie biss sich auf die Lippen. Sonst half es, die schmerzenden Stellen zu massieren. Doch gerade stillte es das Brennen nicht. Hektischer rieb sie über ihre Haut. „Es hört nicht auf. Wieso hört es nicht auf? Es muss aufhören..."

Sie merkte selbst, wie panisch ihre sich überschlagende Stimme klang. Doch sie konnte das genauso wenig kontrollieren, wie die Tatsache, dass er sich nun ihre Rechte schnappte und sie musterte. Sie riss ihre Hand zurück und starrte in sein erschrockenes Gesicht. Automatisch drehte sich ihr Magen um und ihr wurde flau.

„Habibti ... Was ... was ist passiert?" Eva wich zurück und wollte ihm entkommen, doch stattdessen angelte er auch noch nach der linken Hand. Mit zusammengezogenen Brauen musterte er sie ebenfalls und strich über die Unebenheiten, die ihre Handflächen ausmachten. Sie schluckte trocken und konnte den Blick nicht von ihm abwenden. „Was ist passiert, hm?"

„Chemikalien ... Verätzung ... Ich ... Mutti ..." Sie biss sich auf die Zunge, als ihr auffiel, dass sie stammelte. Sein Blick verdunkelte sich vor Mitgefühl, ehe er nickte und ihn wieder auf ihre Handfläche senkte. Ein warmer Schauer rieselte ihren Rücken hinunter, während er nochmal sachte über die Narbe streichelte. Irritiert erkannte sie, wie der Schmerz mit seiner Berührung verflog. Stattdessen stellten sich die Härchen auf ihren Armen auf.

Erschrocken von dieser Tatsache entriss sie ihm ihre Linke endgültig und wich vor ihm zurück. Jetzt leuchtete Bedauern auf seinen Zügen wie eine Neonreklame. Sie konnte das nicht aushalten. Es war nicht richtig, dass ihr Herz wie verrückt in ihrem Hals pochte. Es war falsch, wie es in ihrem Bauch summte. Doch es fühlte sich an, als hätte sie endlich wieder Luft zum Atmen.

Erneut stolperte sie einen Schritt rückwärts und stierte ihn an. Sie ahnte, dass er etwas sagen wollte, aber sie kam ihm mit einem Kopfschütteln zuvor. Schnell machte sie auf dem Absatz kehrt und lief Richtung Haus. Dabei spürte sie seinen Blick zwischen ihren Schulterblättern brennen. Doch es half nichts. Sie musste weg. Dringend. Von ihm. Aber vor allem, von den Gefühlen, die er zu wecken vermochte.

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