12. Das war knapp | Keno/Miki

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Ich erwachte in einem Traum.

Seltsam, dass mir das so bewusst war, dass ich diese Realität gerade erträumte. Ich war wieder auf der Friedhofsinsel und wanderte auf den vertrauten Pfaden meiner Kindheit durch den Wald. Es war Herbst und die Laubbäume um mich herum beinahe kahl.

Ganz automatisiert lief ich zum alten Sienna Anwesen, welches im Herz des Waldes, auf einer kleinen Anhöhe lag. Das steinerne Gebäude mit den hohen Spitzen und Türmchen zeichnete sich eindrucksvoll vor dem Nachthimmel ab. Plötzlich riss die Wolkendecke auf und der Mond warf sein schauriges Licht auf die rötliche Fassade.

Der Pfad endete vor einer Steintreppe, die ich begann emporzusteigen. Da im Inneren des Anwesens noch Lichter brannten, erwartete ich, dass Onkel Naz oben auf mich warten und mit seinem gutmütigen Lächeln in Empfang nehmen würde. Wie früher, wenn Robin und ich Anfang des Sommers mit unseren vollgepackten Rucksäcken die Treppe hinaufgestürmt waren, bereit, ein neues Abenteuer zu beginnen.

Stattdessen sah ich Alicia.

Sie stand einfach nur da, am Ende der Treppe, vor dem gigantischen Anwesen und starrte hinauf zum Mond. Sie lächelte und der Wind spielte mit ihrem Haar und dem Saum ihres langen Nachthemds.

Aus irgendeinem Grund konnte ich nicht den Blick von ihr abwenden, durfte nicht einmal blinzeln.

Irgendwas wird gleich passieren. Ein Unglück. Ein Schauer überkam mich und ließ mich schwer schlucken.

Und dann sah ich sie plötzlich, die Silhouette einer Person, die sich Alicia hinterrücks näherte.

Er wird sie runterstoßen, wurde mir schlagartig klar und wollte schreien, um sie zu warnen, doch obwohl ich den Mund aufriss, verließ kein Laut meine Lippen. Meine Stimme war erloschen.

Panisch rannte ich los, nahm immer zwei Stufen auf einmal, um es noch irgendwie rechtzeitig zu schaffen – doch die Treppe nahm einfach kein Ende. Wieder versuchte ich ihren Namen zu schreien, doch erneut erzeugte ich keinen Ton. Meine Lunge brannte, aber ich wagte es nicht, mein Tempo zu drosseln. Wenn ich es nicht rechtzeitig schaffte ...

*

Laut schreiend erwachte ich aus dem Alptraum und krümmte mich unter meiner Bettdecke zusammen.

Die Zimmertür flog auf und ich hörte Andy panisch fragen: „Keno? Hey, was ist passiert?!"

Ich schnappte ein paar Mal zittrig nach Luft und versuchte mich selbst zu beruhigen.

Meine Schwester hatte sich derweil neben mich gesetzt und streichelte mir beruhigend über den Rücken. „Alles gut, du hast nur schlecht geträumt."

„Ich ... habe Durst. Kannst du mir vielleicht ein Glas Wasser bringen?"

„Klar", sagte Andy sofort hilfsbereit und ging wieder aus dem Zimmer.

Ich hatte wirklich Durst, aber es war auch eine Ausrede, um kurz allein sein zu können. Mein Herz hämmerte mir immer noch heftig gegen die Brust. Dieser Traum, nein besser gesagt diese Vision ... veränderte nochmal den Blickwinkel auf alles. War Alicia vielleicht gar nicht bei einem Autounfall gestorben? Wenn sie stattdessen vom Sienna Anwesen in den Abgrund geschubst worden wäre, würde erklären, warum sie immer noch an diese Insel gebunden war.

Meine Schwester kam zurück und überreichte mir ein Glas Leitungswasser.

„Geht's wieder?"

„Ja", behauptete ich und zwang mich dazu, einen neutralen Tonfall anzuschlagen.

„Wovon hast du denn geträumt?"

„Ich erinnere mich nicht", log ich und sah hinüber zum Fenster, wo das Licht des Mondes durch die nur halb heruntergelassenen Jalousien schien. Großmutter Mathilde stand dort und lächelte mir aufmunternd zu. Fast als wollte sie mir sagen, dass alles gut werden würde.

Nur in meinem Kopf - Eine GeistergeschichteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt