Montag 22.11.2004

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Es regnete, aber Shouta öffnete die Balkontür trotzdem. Eisige Luft strömte in die Küche und vertrieb den Geruch nach altem Fett und Rauch. Er öffnete den Brotkasten, fand nichts darin und danach den Kühlschrank und schloss ihn wieder. Auch nichts. Dann rauchte er eben. Er ließ sich auf die Bank am Esstisch fallen und öffnete den an ihn adressierten Brief, der gestern gekommen war. Justizvollzugsanstalt Bochum, also von seinem Vater.

Er zog eine Karte aus dem Umschlag. Luftballons vor blauem Hintergrund, Happy Birthday in roten Lettern. Ziemlich hässlich, aber Shouta musste lächeln. Sein Vater schrieb selten, aber immer viel. Beide Innenseiten und die Rückseite der Karte waren bedeckt von seiner kleinen, dichten, krakeligen Handschrift. Glückwünsche zum Geburtstag. Wie es Shouta gehe und, dass er zehn Euro überwiesen habe.

Zehn Euro waren viel Geld, das wusste Shouta, im Knast verdiente man schlecht. Er warf die Kippe auf den Balkon und schob die Karte in die Tasche seiner Kapuzenjacke. Eigentlich nicht seine, sondern ausgeliehen. Sie war Shouta viel zu groß und roch noch nach Vítor.

Seine Mutter schloss auf und öffnete die Tür. Es waren ihre Schritte und die einer anderen Person. Shouta erstarrte. Sie hatte jemanden dabei, und das konnte nur heißen, dass -


Andrej betrat die Küche. Er lächelte, aber seine grauen Augen blieben kalt. Er trug eine Einkaufstasche.

„Shouta! Alles Gute zum Geburtstag."

„Was machst du hier?", fragte Shouta, obwohl er wusste, dass Andrej diese Frage nicht gefallen würde.

„Hab deiner Mutter beim Einkaufen geholfen und wollte dir gratulieren. Man wird nicht jeden Tag vierzehn, oder?"

Er stellte die Tasche auf den Tisch. Shouta antwortete nicht.

„Hilf deiner Mutter und räum das ein. Ich habe noch eine Überraschung für dich."

Seine Mutter kam nun ebenfalls in die Küche, zwei volle Taschen in den Händen. Ihr dunkles Haar war fettig, aber gekämmt. Ihre Kleidung war größtenteils sauber.

„Andrej war so nett, uns zu helfen. Du weißt ja, wie knapp das Geld ist", sagte sie und lächelte. Shouta wurde schlecht.

Wortlos packte er die Tüten aus. Es waren Chips dabei, sogar Markenchips, und eine Packung Butterkekse. Er schmiss sie in den Schrank und spürte dabei Andrejs Blick in seinem Nacken.

„Die kannst du mitnehmen", sagte Andrej, „die hab ich für dich und deine Freunde besorgt."

„Wir haben schon", log Shouta. „Haben zusammengelegt."

„Vítor und du?"

„Alle halt."

Er wandte sich ab, um den Kühlschrank einzuräumen.

„Dann sind sie für ein anderes Mal." Andrejs Stimme war ölig. Klebrig wie das Fett und der Staub auf den Arbeitsflächen. Shoutas Mund wurde trocken.

„Okay. Danke", zwang er sich zu antworten. Es war besser, das zu sagen, was Andrej hören wollte. Dank erwartete er immer.

„Ich weiß gar nicht, was die Lehrer wollen. Shouta ist ein braver Junge und so hilfsbereit."

Andrej räumte die Dosen mit Bohnen und Tomaten in den Oberschrank und kam Shouta dabei so nahe, dass seine Hüfte Shoutas berührte. Als wäre es Zufall.

Shouta schauderte und machte einen Schritt zurück. Andrej lächelte. Er stand zwischen Esstisch und Arbeitsfläche, groß und schlank, und blockierte den Weg zum Flur.

Sarnai seufzte tief. Sie lehnte sich gegen den Türrahmen, als hätte sie die Kraft verloren.

„Ich weiß auch nicht, ich kriege ja nur die Briefe."

„Vielleicht verstehen sie ihn einfach nicht. Es ist schwer, wenn der Vater nicht da ist."

Andrej klang so übertrieben mitleidig, dass Shouta beinahe explodierte.

„Papa hat mir geschrieben", sagte er, die Hände zu Fäusten geballt. Sein Vater war im Knast, aber er erinnerte sich an ihn. Er schrieb ihm und er hatte seinen Geburtstag nicht vergessen. Keinen seiner Geburtstage. Und wäre sein Vater hier, würde Andrej nicht in ihrer Küche stehen und die Schnauze aufreißen.

„Aber er kann leider nicht hier sein, nicht wahr?"

Shouta gab keine Antwort.

„Hier. Für dich."

Andrej zog ein Päckchen aus seiner Manteltasche. Bunt gestreiftes Geschenkpapier. Die Kanten waren hart und wie mit dem Lineal gezogen gerade, das Geschenkband gekräuselt. Shouta hatte dieses Papier in Andrejs Wohnung gesehen, also musste er das Geschenk selbst verpackt haben.

Es war ein Buch, das spürte Shouta sofort, als er es in die Hand nahm. Am liebsten hätte er es Andrej ins Gesicht geschmissen, aber er öffnete das Päckchen trotzdem.

Shouta musste den Titel nicht lesen, um zu wissen, worum es ging. Er kannte den Mann, der auf dem grünlichen Cover abgebildet war. Ein Weißer mit zurückgekämmten, kurzen Haaren und Dreitagebart: Jeffrey Dahmer.

Die Dunkelheit öffnete sich und verschlang Shouta. Zwei Leichen in der Badewanne, bedeckt mit Eis, aber Dahmer duschte dennoch dort. Verwesungsgestank, wegen dem die Nachbarn die Bullen riefen. Komme aus dem Aquarium, behauptete Dahmer, und die Bullen glaubten ihm. Ein abgeschlagener Kopf und Herzen im Kühlschrank. Noch mehr Köpfe in der Gefriertruhe, Schädel im Schlafzimmer.

Oh Gott, es musste so gestunken haben.

Die Überreste elf junger Männer hatten in dieser Wohnung gelegen, aber Dahmer hatte noch mehr getötet. Die meisten von ihnen waren schwarz gewesen. So wie Vítor.

Shouta wurde kalt und heiß. Die Küche verschwamm. Es stank hier, oder? Er roch die Verwesung, süßlich und beißend. Und er sah den Kopf im Kühlschrank: Vítors Kopf.

„Danke", hörte er sich sagen. Sein Blick klebte am Cover. In blutroter Schrift: Wer ist Jeffrey Dahmer? Das schockierende Porträt des Milwaukee-Mörders.

Jeffrey Dahmer, der junge Männer zu seinen Sexsklaven-Zombies hatte machen wollen. Er hatte sie ans Bett gefesselt, Bilder gemacht und dann ...

So wie Andrej.

„Du bist erwachsen für dein Alter, es wird dir bestimmt gefallen."

„Bestimmt", wiederholte Shouta. Er sah auf und die Welt war noch da, aber sie war grau. Alles drehte sich. Sarnai war nicht mehr in der Küche.

„Lies es dir aufmerksam durch", sagte Andrej.

„Klar."

Andrej lächelte.

„Ich geh jetzt zu meinen Freunden", brachte Shouta irgendwie heraus und setzte sich in Bewegung. Er musste hier weg. Weg von dem. Aber Andrej streckte seinen Arm aus und hielt ihn zurück.

„Ich habe noch eine Bitte an dich."

Shouta konnte ihn nicht ansehen. Sonst würde er kotzen, das wusste er. Direkt auf Andrejs Schuhe.

„Was?"

„Ich brauche Hilfe im Schrebergarten, sagen wir Sonntag? Ich hole dich hier ab."

Shouta wollte Nein sagen. Er wollte seinen Geburtstag mit seinen Freunden feiern, ohne an etwas anderes denken zu müssen. Er wollte bei Vítor bleiben. Nur er und Vítor. Dieses Wochenende zumindest. Doch er hielt immer noch das Buch in der Hand: Die Leichen unter Eis. Der Kopf im Kühlschrank. Die unausgesprochene Drohung.

Andrej packte ihn so fest an der Schulter, dass es weh tat.

„Und? Was sagst du?"

„Sonntag, geht klar."


Er wand sich aus Andrejs Griff, warf das Buch auf die Eckbank und verließ hastig die Wohnung. Draußen nieselte es. Nicht heulen. Bloß zu den anderen. Zu Vítor. Da waren noch Zigaretten in der Pullovertasche. Shouta zündete sich eine an und würgte, als er den ersten Zug nahm.

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