Feline war die Erste. Sie betrat durch das Loch im Zaun das Gelände der verlassenen JVA.
„Worauf wartet ihr?", fragte sie und lachte in der Dunkelheit. „Habt ihr Schiss?"
Shouta schlüpfte ebenfalls hindurch.
„Es war meine Idee, dass wir herkommen."
Er schaltete die Taschenlampe an und ließ den Lichtkegel über den gepflasterten Hof wandern. Leer, bis auf Müll, Container, kaputte Sitzbänke und Unkraut. Ein Weg führte am verfallenen Hauptgebäude vorbei. Da ging es zum Sportplatz. Shouta hatte sich den Lageplan eingeprägt.
„Und meine, dass wir es heute machen", warf Liridon ein, der neben ihn trat und ebenfalls die Taschenlampe einschaltete.
Das war eine von Liridons besseren Ideen gewesen, wenn nicht sogar die beste. An Halloween war es spannender als an jedem anderen Datum. Außerdem viel cooler, als Süßes oder Saures zu spielen oder auf Zacharias' und Marias lahme Feier zu gehen. Nicht, dass die Zwillinge sie je einladen würden.
„Riesengelände", murmelte Vítor, der sich nun zu ihnen gesellte. Er hatte die Hände in der Hoodietasche vergraben. Shouta konnte sein Gesicht nicht sehen, aber er kannte Vítor gut genug, um zu wissen, dass er nervös war.
„Das ist doch das Beste!" Shouta stieß ihn mit dem Ellenbogen in die Seite. „Viel zum Erkunden."
„Wird's heut noch?", fragte Liridon laut und leuchtete Kevin und Idriss an. Sie wanden sich durch das Loch im Zaun, aber ihre Gesichter waren ernst.
„Kommen ja schon", sagte Idriss. Er nuschelte, wie immer, wenn er aufgeregt war.
„Feiglinge", kommentierte Feline und lief los, ohne zu warten. Sie folgten ihr.
„Wisst ihr eigentlich, warum sie den Knast hier geschlossen haben?", fragte Shouta in die Runde.
„Platzmangel?" Feline klang sarkastisch.
„Das wollen sie allen weismachen, ja. Aber das ist nicht der wahre Grund." Er legte eine bedeutungsschwangere Pause ein.
„Wieso denn dann?", wollte Kevin wissen.
„Weil es hier spukt ... "
Idriss stöhnte leise und Feline zischte: „Bullshit!"
„Nein, ich sag dir, das stimmt! Dieses Gefängnis wurde irgendwann im neunzehnten Jahrhundert gebaut und damals war alles noch viel brutaler. Weißt du, keiner hat sich gewaschen, Mord und Totschlag und so. Hier sind echt dauernd Insassen gestorben."
„Oh, du redest echt nur Scheiße, Shouta!"
„Ist die reine Wahrheit. Vor hundertfünfzig Jahren hat doch keiner nachgefragt, wieso da irgendein Verbrecher tot im Hof liegt. Wurde einfach untern Teppich gekehrt."
„Lass mich raten: Ihre Geister spuken jetzt hier und sinnen auf Rache?"
„Nicht alle und nicht immer", antwortete Shouta betont geheimnisvoll. Er wartete darauf, dass jemand nachfragte, was er meinte, aber alle schwiegen. Also sprach er weiter: „Vor fünfzig Jahren wurde die Heimsuchung besonders schlimm. Manche sagen, es waren die Geister der Gefangenen, manche sagen, es war etwas viel Schlimmeres: Die Bösartigkeit dieses Ortes selbst."
„Jetzt mach es nicht so spannend. Was ist passiert?" Vítor hatte nun auch seine Taschenlampe gezogen und leuchtete damit das Hauptgebäude ab. Das Dach war eingestürzt, alle Scheiben eingeschlagen.
„Also, da gab es diesen Wärter. Und er war echt furchtbar. Er soll die Insassen gefoltert haben, hat sie in fensterlose Zellen gesperrt und so. Und eines Nachts, auf den Tag genau vor fünfzig Jahren, beschlossen die Gefangenen, sich zu rächen."
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Plattenleben
Short StoryDas Leben ist nicht fair. Das ist die erste Lektion, die Shouta lernen musste. Die zweite ist, dass das Leben in einer Plattenbausiedlung nicht schlecht sein muss, wenn man die richtigen Leute kennt. Die dritte ist, dass es die Hölle sein kann, wenn...