Heilig Abend 2002

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Kevin hockte in der Ecke der Küchenbank. Sie waren zu Besuch bei seiner Oma Teresa, die in der gleichen Platte wohnte, zwei Treppen runter und dann die Tür links. Tante Nadia und Onkel Thomas waren auch gekommen und hatten Mattheo und Christian mitgebracht. Alle saßen im Wohnzimmer beisammen und feierten Bescherung, bloß ihn hatten sie in die Küche geschickt.

Er schniefte und zog die Nase hoch. Der Esstisch war alt und abgenutzt, Kevin knibbelte daran herum. Seine Fingernägel hinterließen kleine Halbmonde im weichen Holz. Er wischte sich mit dem Pulloverärmel die letzten Tränen vom Gesicht.

Mama kam in die Küche. Aus dem Wohnzimmer hörte Kevin elektrisches Summen, einen Knall, als wäre eines der Autos aus der Bahn geflogen, Mattheos und Christians Lachen, gedämpftes Gespräch. Sie schloss die Tür sofort wieder, dann legte sie los: „Kannst du dich nicht einmal benehmen?"

Kevin zog die Beine an und legte den Kopf auf seine Knie.

„Hörst du mir zu?"

Er gab keine Antwort.

Sie ging zur Küchenzeile, öffnete die Hängeschränke und fing an, darin herumzukramen.

„Die anderen kriegen immer viel größere Geschenke als ich!" sagte er laut genug, dass sie es hören musste.

„Und du kriegst daheim nix, oder was?"

Doch, er hatte auch Spielzeug daheim. Sein Zimmerboden war voller Matchbox-Autos und Actionfiguren. Er hatte einen Gummisaurier und sogar eine Armbrust aus Plastik, die aber nicht schießen konnte. Aber nichts von Oma.

Kevin hob den Kopf und verzog das Gesicht.

„Aber die Jacke ist voll scheiße! Ich will die nicht!"

„Du bist jetzt schon groß. So ist das, wenn, man groß wird."

Mama hatte ihm den Rücken zugedreht und machte sich immer noch an den Schränken zu schaffen. Das Geschirr darin klirrte leise. Omas gutes Geschirr, das mit den Röschen und dem Goldrand, das sie nur zu Ostern rausholte. Die Flaschen klirrten auch. Mama nahm eine heraus, von ganz oben, wo Kevin noch nicht dran kam. Und ein kleines Glas. Sie wandte sich ab, schenkte sich ein und trank, als könnte er nicht sehen, was sie da machte.

„Du kannst nicht einfach dem Christian auf den Kopf hauen, bloß weil du dich ärgerst."

„Aber der hat angefangen!", schrie er. Spucke spritzte auf die Tischplatte.

„Mir egal, wer angefangen hat! Mach 'ne Faust in der Tasche oder so, du bist doch der Älteste!"

„Außerdem hat der voll eine Scheiß-Carrerabahn als Scheiß-Geschenk bekommen, der Scheiß-Christian!"

„LANGT'S JETZT MAL?!"

Mama fuhr herum, ganz rot im Gesicht.


„Marlene!"

Die Tür flog auf und knallte gegen den Gummistopper vor der Wand. Oma stürmte in die Küche und redete schnell, wütend auf Mama ein, wie fast immer auf Polnisch. Kevin verstand nur Fetzen.

Oma riss ihr die Flasche aus der Hand, donnerte sie in den Schrank zurück, schlug die Glastüren zu, dann brach es aus Mama hervor. Kevin verstand, dass sie stritten. Nicht genau, worüber, aber Omas Gesten in seine Richtung reichten. Er senkte den Kopf und fummelte lieber wieder am Tisch herum.

Mittig auf dem Tisch stand eine goldene Schale mit vier dicken roten Kerzen und Tannenzweigen drin. Die Kerzen brannten schon den ganzen Abend, Wachs war zu allen Seiten heruntergelaufen und noch nicht wieder völlig erstarrt. Kevin konnte seine Fingerspitzen ganz leicht hineindrücken. Die Wachszapfen lösten sich fast wie von alleine. Kevin nahm sie zwischen die Finger, hielt sie direkt an den Docht und sah zu, wie die Flamme sie gierig aufaß. Er fütterte die Flamme. Seine Fingerspitzen wurden ziemlich heiß davon.

Als nächstes versuchte er es mit einem Tannenzweig. Erst tat sich überhaupt nichts, dann kletterte rasend schnell eine kleine Flamme die dunklen Nadeln hinauf, und plötzlich brannte der Zweig lichterloh.

„Kevin!"

Vor Schreck ließ er den Zweig fallen, mitten zwischen die anderen, die sofort in Flammen aufgingen.

„Was machst du wieder für 'nen Scheiß?!"

Während Mama schimpfte, schnappte sich Oma ein Handtuch, hielt es unter den Wasserhahn und klatschte es quer über das Feuer. Ein Zischen, ein bisschen Rauch, dann war der Spuk vorbei.

Als Kevin aufblickte, stand Oma mit verschränkten Armen da und schüttelte den Kopf. Und sie sagte wieder nur „Bękart*" zu ihm. Das verstand er. Sie verließ ohne ein weiteres Wort die Küche. Dann war die Tür wieder zu und es war still und Kevin wieder alleine mit Mama.

Sie stand da, an die Küchenzeile gelehnt, ein paar Haare klebten an ihrer Stirn und ihr Gesicht war fleckig rot.


Kevin und sie sahen sich an und schwiegen. Er zog wieder die Nase hoch und putze sie mit dem Ärmel ab.

Sie schlug mit der flachen Hand auf die Arbeitsplatte, dass das Geschirr in der Spüle zitterte.

„Hör auf damit!", zischte sie. Und wischte sich selbst die Stirn mit ihrem Ärmel ab und machte sich ans Aufräumen. „Ich möchte einmal ein normales Weihnachten haben, nur einmal! Und was kriege ich? Immer nur Geschrei und Geplärr. "

Sie riss die Schale mit den Kerzen und die Zweige vom Tisch, als wollte sie alles gegen die Wand schmeißen. Ein paar Zweige fielen ihr runter, sie fluchte.

„Als ob du noch ein Baby wärst! So benimmst du dich!"

Sie pfefferte alles neben die Spüle, dass es klapperte. Wieder fielen die Zweige runter.

„Aber-"

„Nix Aber!" Mama klatschte den Putzlumpen auf den Tisch und schrubbte den Ruß weg, dass der Tisch wackelte. „Lern endlich, zu tun, was man dir sagt! So hätte ich mich mal benehmen sollen, als ich in deinem Alter war. Links und rechts eine in die Backen, das hätte ich gekriegt!"

„Das is' aber halt voll unfair-"

„Ich we-eiß, du bist das ärmste Kind der Welt", sagte sie und äffte seinen Ton nach. „Keiner hat dich lieb und nie kriegst du was."

Kevin biss die Zähne zusammen, aber er musste schon wieder weinen.

„Weihnachten ist super mega scheiße!", schluchzte er.


* Polnisch für Bastard 

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