Kapitel 1

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Draußen ist es dunkel und regnerisch. Ab und zu donnert es. Mila liegt in ihrem Bett und starrt an die Decke. Seit zwei Stunden versucht sie zu schlafen, dreht sich von links nach rechts, aber ihr Kopf will nicht abschalten.
Es ist mittlerweile 1 Uhr und ihr Wecker geht um 4:30 Uhr. Diese Woche hat sie Frühschicht im Altenheim. Mila ist im zweiten Ausbildungsjahr zur Pflegefachkraft.
Am Anfang hat ihr dieser Beruf sehr viel Spaß gemacht und sie konnte sich nichts passenderes für sich vorstellen. Seit ein paar Monaten zweifelt sie allerdings an ihrer Entscheidung und spielt mit dem Gedanken, die Ausbildung abzubrechen. Ihre Gedanken kreisen ständig um dieses Thema, aber sie hat Angst, die falsche Entscheidung zu treffen und vor allem Angst, ihre Eltern zu enttäuschen. Besonders ihre Mutter war von Beginn an nicht begeistert, dass sie diese Ausbildung anfangen möchte.
Mila hat ihr Abitur gut bestanden und hätte definitiv die Möglichkeit gehabt zu studieren. Lehramt wie ihr Vater oder Mediendesign wie ihre Mutter.
Es ist Mitte März. Wenn sie jetzt ihre Ausbildung abbricht, muss sie einen Plan B haben, wo sie den Sommer über arbeitet und was sie sich vorstellt anschließend zu machen.
Ist es das überhaupt wert, jetzt abzubrechen oder sollte sie die letzten 1 ½ Jahre lieber noch durchziehen? Insgeheim will sie sich auch nicht die Blöße geben und ihrer Mutter eine Vorlage für „Ich hab's dir ja gesagt"-Kommentare bieten.
Frustriert setzt sie sich an die Bettkante und schaut aus dem Fenster. Man erkennt vereinzelt Lichter aus entfernten Häusern und durch die Straßenlaterne vor ihrem Haus kann sie die Regentropfen gut sehen. Mila macht das Fenster auf und lehnt sich auf die Fensterbank. Der Wind weht ihr einzelne Regentropfen ins Gesicht und ihre schulterlangen, braunen Haare fliegen leicht nach hinten. Schlafen kann sie jetzt sowieso nicht mehr, dafür war ihr Mittagsschlaf von vier Stunden auch etwas zu lang.
Sie setzt sich wieder auf die Bettkante und greift nach ihrem Handy. Ihre beste Freundin Clara, mit der sie die Ausbildung im selben Heim angefangen hat, hat ihr, bevor sie versucht hat wieder zu schlafen, noch eine Nachricht geschrieben: „Fahren wir morgen um 5:12 Uhr mit dem Bus?" - „Klingt gut. Wir treffen uns an der Haltestelle wie immer. Ich kann mal wieder nicht schlafen, bleibe einfach wach" sie schließt den Chat nach dem senden. Clara wird sowieso schlafen. Die beiden kennen sich seit der fünften Klasse und sind seitdem beste Freundinnen. In den Sommerferien waren sie früher immer zusammen mit den Eltern von ihnen im Urlaub. Claras Familie hat in Italien ein Ferienhaus. Nach dem Abitur wussten beide Mädchen, dass sie weiterhin zusammen bleiben wollen und haben sich somit im selben Heim beworben. Meistens haben sie sogar Glück und arbeiten auf derselben Station in einer Schicht.
Seit einem halben Jahr hat Clara eine Freundin, weshalb die beiden sich nicht mehr so häufig treffen, wie es früher mal war. Mila freut sich sehr für sie und versteht sich auch gut mit Jenni, jedoch fühlt sie sich manchmal einsam.
Sie ist jetzt 19 Jahre alt und war noch nie in einer Beziehung. Es gab zwar immer mal wieder jemanden, den sie gut fand, jedoch ist nie mehr daraus entstanden.
Um sich wach zu halten, schaltet Mila den Fernseher ein und sucht sich auf Netflix eine Serie heraus. Nebenbei scrollt sie durch Instagram. Langsam bekommt sie Hunger, aber wenn ihre Eltern sie um diese Uhrzeit noch in der Küche erwischen, gibt es wieder Stress. Nach kurzem Überlegen steht sie trotzdem auf und versucht sich leise einen Toast zu machen. Als sie gerade die Käseverpackung zurück in den Kühlschrank stellen will, macht ihre Mutter das Licht an. „Mila? Was machst du um diese Uhrze... Du machst dir JETZT noch etwas zu essen?" Sie dreht sich zu ihrer Mutter um. Diese steht in ihrem Bademantel gehüllt im Türrahmen. Ihre Schlafmaske ist zur Stirn hochgeschoben und ihre Haare sind in ein Seidentuch gewickelt. Vereinzelt hängen blonde Strähnen herunter. Mila seufzt: „Ich habe Hunger und kann nicht schlafen, Gina." Mit einer Hand nimmt sie den Teller in die Hand und mit der anderen hält sie ihr Handy, was ihr vorher als Taschenlampe diente, um an ihrer Mutter vorbeizukommen. Sie hält Mila am Oberarm fest „Ich weiß nicht, wie oft ich es dir noch sagen soll, dass du mich nicht Gina nennen sollst. Du nennst deinen Vater auch nicht beim Vornamen." Genervt schüttelt sie die Hand ihrer Mutter ab und geht durch den dunklen Flur zurück in ihr Zimmer „Gute Nacht, Gina."
Da sie sowieso nicht mehr schläft, beginnt sie weitaus eher als sonst, sich für die Arbeit fertig zu machen. Normalerweise schminkt sie sich so früh nicht. Ungeschminkt mag sie ihre Haut auch sehr, dann sieht man ihre Sommersprossen ganz genau. Ihre Haare bindet sie in einen Dutt. Auf der Arbeit muss sie immer einen Kasack anziehen, weshalb sie sich für den Hin- und Rückweg einen beigefarbenen Hoodie drüber wirft. Um 4:55 Uhr schnappt sie ihre Jeansjacke und ihren Rucksack und verlässt das Haus.
Der Regen hat nicht nachgelassen und Mila zieht die Kapuze von dem Hoodie weiter ins Gesicht. In ihrem Rucksack sucht sie nach der Schachtel Zigaretten. Ihre Eltern wissen natürlich nicht, dass sie raucht. Mit jedem Zug, den sie in ihre Lunge einzieht, fühlt sie sich etwas weniger hilflos, was ihre Gedanken betrifft. Die Frühschicht an einem Montag ist definitiv nicht ihre Lieblingsschicht, besonders nicht, wenn sie das Wochenende ebenfalls früh arbeiten war.
Clara steht bereits mit ihrem pinken Regenschirm an der Bushaltestelle und winkt ihr zu. Optisch könnten die beiden nicht unterschiedlicher sein. Clara hat hüftlange, blonde Haare, blaue Augen und sieht aus, als ob sie einer Barbie Verpackung entsprungen ist. Mit 1,85m ist sie 20 cm größer als Mila. Das einzige was sie gemeinsam haben, ist ihr schmaler Körperbau. Zur Begrüßung umarmen sie sich.
Mila stellt sich mit unter den Regenschirm: „Am liebsten würde ich zuhause bleiben." - „Ach Mila, wir rocken die Schicht heute und dann haben wir morgen frei! Du weißt, was das heißt: Morgen wird geshoppt!" Clara grinst und freut sich offensichtlich. Momentan ist Mila absolut nicht nach shoppen und würde ihren freien Tag morgen lieber alleine in ihrem Zimmer verbringen und sich einen Plan B überlegen. Obwohl sie ihre beste Freundin ist, hat sie bisher noch nicht über den Gedanken gesprochen, die Ausbildung abzubrechen.
„Ja...ähm, ich muss Gina vielleicht im Haushalt helfen", lügt sich Mila spontan zurecht. Ihre beste Freundin zieht eine ihrer perfekt nachgezogenen Augenbrauen hoch: „Ist klar, wer's glaubt. Als ob DU ihr lieber  hilfst, als Zeit mit mir zu verbringen. Sonst haust du doch auch immer direkt ab. Außerdem muss Jenni morgen den ganzen Tag bei einer Schulung teilnehmen, ich hab mir extra für dich nichts anderes vorgenommen."
Mila verdreht unbemerkt ihre Augen. Andere Freunde hat Clara auch nicht. Sie ist zwar hübsch und war in der Schule sowohl bei Jungs als auch bei Mädchen sehr beliebt, jedoch ist davon nicht viel übrig geblieben, seitdem sie mit der Schule fertig sind. Abgesehen von Clara, hat Mila auch nur noch einen Freund. Finn ist ein Jahr älter als sie, 1,90m, hat braune Haare und studiert soziale Arbeit. Die beiden kennen sich seit dem Kindergarten und waren ebenfalls in einer Klasse. Bis Clara sich geoutet hat, hat Finn sich immer Hoffnungen gemacht, irgendwann bei ihr landen zu können. Insgeheim ist Mila froh, dass das zwischen den beiden nichts geworden ist. Bei Streit oder einer Trennung würde sie zwischen den Stühlen stehen.
„Na gut, ich komm morgen mit" brummt Mila vor sich hin. Zufrieden zwinkert Clara ihr zu. Der Bus hält vor ihnen und sie setzen sich wie immer auf eine Zweierbank im hinteren Bereich. Sie fahren knapp 40 Minuten und steigen direkt vor dem Altenheim aus. Bevor sie zu den Umkleiden gehen, zündet Mila sich noch eine Zigarette an. Etwas angewidert schaut Clara sie an. Sie verachtet es, wenn man raucht und findet es feige, dass Mila es ihren Eltern verheimlicht. „Ich kann deine Verachtung bis hierher riechen", sagt Mila und schnippt die Zigarette auf den Boden. Clara streicht ihre Locken hinters Ohr: „Ich verstehe immer noch nicht, wieso du es ihnen nicht einfach sagst. Gina hat sowieso immer etwas zu meckern, da fällt das eine Thema mehr nicht auf."
Mila und ihre Mutter hatten schon immer eine relativ schwierige Beziehung zueinander, weswegen es ihr seit ein paar Jahren auch leichter fällt, sie beim Vornamen zu nennen. Sie war kein Wunschkind und bekam es seit ihrer Kindheit immer wieder zu spüren. Für ihre Eltern zählte immer nur die Arbeit und das hat sich nach ihrer Geburt nicht geändert.
In der Umkleide treffen sie auf weitere Kolleginnen, sowohl von ihrer als auch von anderen Bereichen. Das Altenheim ist groß und bietet Platz für 210 Bewohner auf 6 Stationen.
Ihre Laune verbessert sich nicht, als sie ihre Praxisanleitung Wilma sieht. Wilma ist 58 Jahre alt und ist auf ihrem Wissensstand von vor 30 Jahren kleben geblieben. Wagt Mila sich mal und äußert, dass sie es in der Schule anders gelernt hat, bekommt sie nur zu hören: „Das mache ich schon immer so und das wird sich auch nicht ändern. In der Prüfung kannst du es einfach anders machen." Clara beugt sich zu ihr rüber und flüstert ihr ins Ohr: „Sieh es positiv: Ab nächster Woche sind wir für zwei Monate in der Schule, dann müssen wir den Stinkstiefel nicht mehr ertragen." Mila kann ein gehässiges Lächeln nicht unterdrücken und zieht ihre Freundin mit zum Aufzug.
Nachdem die Übergabe stattgefunden hat, gehen alle nochmal zusammen auf dem Balkon eine Zigarette rauchen. Clara ist eine der wenigen Mitarbeiter, die nicht raucht. Trotzdem gesellt sie sich zu den anderen. Dies sind die letzten ruhigen fünf Minuten, bevor die Pflege beginnt und die Rennerei losgeht. Wilma hatte bereits im Dienstzimmer verkündet, dass sie heute ziemlich eingespannt mit ihrem Papierkram sei und das wöchentliche Tabletten stellen ebenfalls ansteht. Somit würden sie wenigstens Ruhe vor ihr haben, jedoch gleichzeitig auch mehr Arbeit. Obwohl man die Tage, an denen Wilma in der Pflege mit anpackt, auch an einer Hand im Jahr abzählen kann.
Mit drei Pflegehelfern beginnen sie sich aufzuteilen und Mila steuert auf das Zimmer 306 zu. Frau Wein. Sie ist 87 Jahre alt, macht das meiste noch selbstständig und genießt morgens gerne die Unterhaltung mit der jeweiligen Pflegekraft. Da sie Frühaufsteherin ist, geht Mila immer zuerst zu ihr. Außerdem muss sie dann nicht von jetzt auf gleich mit der harten Arbeit loslegen, sondern hat es erstmal entspannt.
„Guten Morgen, Frau Wein" sagt sie leise, nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen und das kleine Licht im Vorraum angemacht hat. Die Badezimmertür ist bereits angelehnt und man hört den Wasserhahn laufen. „Komm rein, Kind! Ich freue mich dich zu sehen. Hast du gut geschlafen?" - „Es ist meine Aufgabe Sie das zu fragen, Frau Wein" Mila grinst und steckt ihren Kopf ins Badezimmer. Frau Wein steht am Waschbecken und kämmt sich ihre Haare zurecht. Da sie sich nicht mehr selbstständig den Hinterkopf kämmen kann, hält sie Mila den Kamm hin.
Nachdem bei Frau Wein alles erledigt ist, beginnt für sie die richtige Pflege. Als sie gerade bei Herr Koch im Zimmer ist, klopft es und Wilma kommt herein. Hinter ihr steht ein Junge, schätzungsweise in Milas Alter. Er hat schwarze, glatte Haare, die ihm strähnenweise ins Gesicht fallen. Seine Körperhaltung verrät, dass er relativ wenig Lust hat, an diesem Ort zu sein.
„Mila, das ist Lukas. Anscheinend war er für heute angemeldet, mir hat natürlich mal wieder keiner Bescheid gesagt! Ich hab auch keine Zeit mich um ihn zu kümmern, du weißt ja, die Medikamente. Naja, nimm ihn heute einfach mit und zeig ihm alles", mit diesen Worten dreht Wilma sich um und verschwindet aus dem Zimmer. Etwas perplex starrt Mila ihn an und räuspert sich nach ein paar Sekunden: „Äh, hi. Also, ich bin Mila. Bist du ein neuer Auszubildender?" - „Ne. Ich muss Sozialstunden abarbeiten und wurde hierher geschickt." Unbeeindruckt tritt er weiter ins Zimmer und schließt die Tür hinter sich. Mit einem kurzen Blick mustert er sie und grinst: „Was ist denn deine Position hier? Du siehst so jung aus." Sozialstunden. War klar, dass so einer wie Lukas zu ihr abgeschoben wird. Wer weiß weswegen er die aufgedrückt bekommen hat. Sie dreht sich zu Herrn Koch um und beginnt mit ihm zusammen das T-Shirt auszuziehen. Herr Koch ist bettlägerig, jedoch kann er noch bei einigen Sachen mithelfen und kommunizieren. „Ich bin Azubi im zweiten Lehrjahr." Gekonnt ignoriert sie seine Aussage über die Sozialstunden. Das wird sie zu einem späteren Zeitpunkt herausfinden, wenn kein Bewohner anwesend ist. „Hast du schon Erfahrungen in der Pflege gemacht oder ist das alles neu für dich?" - „Ich hab ... ein Familienmitglied gepflegt", er stellt sich zu ihr ans Bett und greift über ihre Schulter nach Handschuhen. Sein Parfum ist viel zu intensiv und aufdringlich. Mila atmet scharf ein und fängt an, Herr Koch mit Lukas zusammen zu pflegen.
Im Anschluss gehen sie noch zu 6 anderen Bewohnern. Viel erfährt sie nicht über Lukas. Er ist nicht gerade gesprächig, was sein Privatleben angeht. Als alle Bewohner beim Frühstück sitzen, holt Mila ihre Zigarettenschachtel aus dem Dienstzimmer und hält sie Lukas entgegen: „Rauchst du?" Er nickt und folgt ihr auf den Balkon.
Da kein anderer Mitarbeiter draußen steht, nutzt Mila diese Chance: „Weshalb hast du Sozialstunden aufgedrückt bekommen?" Lukas hält kurz inne, als er an seiner Zigarette zieht und schaut sie an. Für einen kurzen Moment denkt sie, dass sie darauf keine Antwort bekommen wird. Vielleicht war es auch einfach zu früh, danach zu fragen. „Ich hab geklaut." Sie hatte sich gedanklich spannendere Szenarien ausgemalt, aber irgendwie passt es zu seinem Erscheinungsbild zu klauen. Wie voreingenommen. „Wie lange bist du dann hier?", sie hält seinem Blickkontakt stand. Offenbar hat er wenig Lust darüber zu sprechen, denn er zuckt mit den Schultern und lehnt sich an das Geländer: „Keine Ahnung, da wird mit Sicherheit noch was dazukommen an Stunden. Das ist aber noch nicht durch." Was hat der Typ bitte alles bisher verbrochen? Mila macht ihre Zigarette aus und steht auf, um wieder reinzugehen. „Falls es bisher kein anderer hier weiß, würde ich es an deiner Stelle dabei belassen. Hier gibts einige Lästerschwestern." - „Woher weiß ich, dass du nicht eine von ihnen bist?", Lukas zieht eine Augenbraue hoch, während er hinter ihr herläuft.
Bevor Mila drauf antworten kann, kommt Wilma aus dem Dienstzimmer gestürmt: „Pause? Wer hat das denn abgesegnet? Ach, wisst ihr was, macht einfach eure Arbeit! Ich bin unten beim Chef, hier wird einem nur auf der Nase herum getanzt!" Sie muss sich zusammenreißen, nicht zu lachen, weil es immer wieder aufs Neue lächerlich amüsant ist, wie Wilma ausrastet, wenn man nicht nach ihren Wünschen springt. Wenn es nach ihr gehen würde, würde niemand in dieser Einrichtung jemals Pause, Feierabend oder gar Urlaub machen. Clara und Mila sind sich einig, dass Wilma das Heim erst verlässt, wenn sie stirbt.
Mila zeigt Lukas die wichtigsten Räume inner- und außerhalb des Wohnbereiches. So muss sie wenigstens nicht jedem Bewohner neue Wasserflaschen bringen und Trinkgläser gegen neue tauschen.
Als sie Clara auf dem Flur treffen, füllt diese gerade den Materialwagen auf. Mila macht sie und Lukas miteinander bekannt. „Sei froh, wenn du hier bald wieder weg bist!" Clara wedelt sich mit der flachen Hand Luft zu „Ich musste vorhin Frau Bäcker duschen und Mila, du weißt ganz genau wie anstrengend diese Frau ist."
Die Zeit bis zum Feierabend um 14 Uhr vergeht zum Glück für Mila und Clara ziemlich schnell, da nach dem Mittagessen die meisten Bewohner für die Mittagsruhe ins Bett gelegt werden und dies einiges an Zeit beansprucht. „Bist du morgen auch wieder da?" fragt Lukas sie, als sie gemeinsam mit dem Aufzug runter zu den Umkleiden fahren. Mila schüttelt mit dem Kopf: „Morgen hab ich frei. Von Mittwoch bis Freitag bin ich wieder im Frühdienst. Ich denke mal, dass deine Schonfrist morgen vorbei ist und du dann selber pflegen musst, so wie ich Wilma kenne." Bevor sie zum umziehen gehen, verabschiedet sich Lukas von den beiden Mädchen.
„Ganz im Ernst Mila, was hältst du von diesem Lukas?" Clara lässt sich auf einen Stuhl fallen und zieht ihren Kasack über den Kopf. Mila setzt sich neben sie: „Keine Ahnung, finde ihn komisch und du?" - „Komisch? Ist er nicht genau dein Typ?" Es wundert sie überhaupt nicht, dass Clara sofort darauf zu sprechen kommt. Sie ist der Meinung, dass Mila dringend einen Freund braucht, damit sie öde Vierer-Dates vereinbaren können. „Nerv jetzt nicht" zischt sie und steckt ihren Kopf in ihren Hoodie, um einem weiteren Gespräch zumindest kurzweilig aus dem Weg zu gehen. Der fehlende Schlaf in der Nacht macht sich jetzt durch extreme Müdigkeit bemerkbar. Ihr Kopf fängt an zu dröhnen und Mila wünscht sich nichts sehnlicher, als einfach in kompletter Stille in ihrem Bett zu liegen. Heute braucht keiner mehr versuchen sie zu erreichen.
Auf dem Rückweg im Bus reden die beiden nicht sonderlich viel miteinander, weil Mila kurz davor ist einzuschlafen und Clara damit beschäftigt ist, ihr Make-Up aufzufrischen. Wahrscheinlich trifft sie sich gleich noch mit Jenni. Bevor die beiden getrennte Wege von der Bushaltestelle gehen, drückt Clara sie fest an sich: „Bis morgen! Du kommst nicht drum rum, mit mir shoppen zu gehen." Sie weiß, dass sie keine andere Wahl hat, weshalb sie einfach nickt und zum Abschied winkt.
Zuhause angekommen, bleibt Mila kurz im Flur stehen und horcht in die Stille hinein. Es ist niemand zuhause. Besser geht es nicht. Sie macht sich kurz einen Toast und legt sich anschließend sofort ins Bett. Sie merkt noch, wie ihr Handy vibriert, jedoch schläft sie zu dem Zeitpunkt gerade ein.
Es ist 17:30 Uhr, als sie wieder aufwacht. Kein Grund zur Panik, denn sie hat ja morgen frei und es gab schon deutlich längere Mittagsschläfchen als diesen. Von draußen hört es sich nicht so an, als ob jemand zuhause anwesend wäre. Das einzige, was sie hört, ist der Regen, der wieder gegen ihr Fenster prasselt.
Sie checkt ihr Handy. „Schlaf nicht zu lange, wir wollen um 18 Uhr mit dir Essen gehen! Xo", hatte Gina ihr geschrieben, als sie eingeschlafen ist. Perfekt, dann hat sie noch eine halbe Stunde. Hunger hat sie sowieso. Mila überfliegt die anderen Benachrichtigungen, jedoch ist nichts Wichtiges dabei. Von Clara hat sie auch nichts gehört, was wohl daran liegt, dass sie sich tatsächlich mit Jenni getroffen hat.
Um Punkt 18 Uhr klingelt es an der Haustür. Sie ist gerade dabei, die letzte Strähne ihrer Haare um den Lockenstab zu wickeln. Da sie die Tür ignoriert, bekommt sie prompt einen Anruf von ihrem Vater. „Hi Dad", ruft sie, als sie das Handy auf Lautsprecher umstellt „Ich bin in fünf Minuten unten." - „Mila, kannst du nicht einmal pünktlich sein?" Sie hört, wie ihr Vater lacht und legt auf.
Gina wirft ihr einen verärgerten Blick zu, als sie fünf Minuten später zu ihnen ins Auto steigt. Ihr Vater nickt ihr durch den Innenspiegel zu und fährt los.
Sie halten vor einem italienischen Restaurant, in dem sie schon öfter Essen waren. Es ist etwas altmodisch, aber dennoch gemütlich eingerichtet. Vielleicht lenkt sie die Zeit mit ihren Eltern von ihren eigentlichen Gedanken ab. Sollte sie bis nächste Woche in der Schule noch keine Entscheidung getroffen haben, würde sie ihre Dozentin um ein Gespräch bitten. Während des Essens hat Gina ständig etwas an Mila zu bemängeln, wodurch die Stimmung relativ schnell angespannt ist. „Ich verstehe nicht, weshalb du auf ein Studium verzichtet hast. Das frage ich mich seitdem du diese Ausbildung angefangen hast...", Gina nippt an ihrem Weinglas. Leicht gereizt legt Mila ihr Besteck beiseite: „Es haben nicht alle Menschen denselben Wunsch wie du. Akzeptiere es doch einfach, dass ich mein Leben anders gestalten möchte als du!"
Ihr Vater versucht die Stimmung zu beschwichtigen, doch selbst während der Fahrt herrscht Stille. Zuhause angekommen, geht Mila direkt in ihr Zimmer. Sie setzt sich auf die Bettkante und holt ihr Handy raus. Im Nachhinein war es verschwendete Zeit mit den beiden Essen zu gehen. Clara hat sich immer noch nicht gemeldet. Typisch. Sobald sie mit Jenni zusammen ist, ist Mila gefühlt abgeschrieben. Sie hat schon öfter versucht, mit Clara darüber zu sprechen, doch die einzige Antwort war: „Such dir auch einen Partner, dann können wir immer zu viert etwas unternehmen."
Da es erst 20 Uhr ist, ist es definitiv zu früh zum Schlafen, besonders nach dem Mittagsschlaf vorhin. Der Regen hat immer noch nicht aufgehört. Mila zieht sich den Hoodie von der Arbeit drüber mit einer Sportleggings und klettert aus ihrem Fenster, rüber auf ein kleines Dach und springt von dort aus runter. Sie wohnt im ersten Stock und hat sich schon des Öfteren so aus dem Haus geschlichen. Nicht, dass Gina und ihr Vater ihr was zu sagen hätten, aber sie will diese unnötige Konversation vermeiden, wenn sie den Weg durch die Haustür benutzt. Sie zieht sich die Kapuze ins Gesicht und joggt los.
In der Nähe von ihrem Haus ist ein kleiner Park, in dem sie ab und an joggen geht, wenn ihr zuhause alles zu viel wird oder sie nachdenken muss. Auf halbem Weg bemerkt sie, dass sie ihre Kopfhörer vergessen hat. Es gibt wenig ätzenderes, als ohne Kopfhörer joggen zu gehen. Außer Wilmas Art ertragen zu müssen. Draußen ist es bereits dunkel. Im Park angekommen, ist es relativ leer. Vereinzelt spazieren ein paar Leute mit ihren Hunden umher oder benutzen den Park als Abkürzung, um zur nächsten Bahnhaltestelle zu kommen. Nach einer Weile bleibt sie ein paar Meter vor einer Parkbank stehen. Durch den Regen ist ihr Hoodie durchnässt und es tropft ihr vom Rand der Kapuze ins Gesicht. Ihre Beine schmerzen und ihre Lunge brennt. Die Leggings klebt an ihrer Haut und gibt ihr das Gefühl, sie nie wieder ausziehen zu können. In ihrer Bauchtasche sucht sie nach ihren Zigaretten oder nach Geld, da unweit der Parkbank ein Zigarettenautomat steht. Unbewusst ist sie vor der Parkbank stehen geblieben, da sie dort durch das Licht der Laternen besser sehen kann.
„Zigarette gefällig?" Mila stoppt in ihrer Bewegung und schaut hoch. Auf der Parkbank sitzt Lukas. Er ist ebenso durchnässt wie sie und hält ihr seine Schachtel hin. Nach kurzem Zögern lässt sie sich neben ihn auf die Bank fallen und nimmt sich eine. „Danke...Was machst du hier?" - „Nichts, ich hänge hier einfach rum und du? Zigaretten schnorren?" Mila hört, wie er beim Reden anfängt zu lächeln und würde ihm am liebsten seine blöde Zigarette zurück ins Gesicht werfen: „Nein, ich war joggen." Darauf bekommt sie keine Antwort. Er lehnt sich zurück und mustert sie. Ist ihm eigentlich bewusst, dass er das ziemlich auffällig macht? „Was ist der Grund dafür, dass du bei Regen im Dunkeln joggen gehst?" Sie zieht eine Augenbraue hoch: „Ich musste nachdenken." - „Worüber?" - „Gegenfrage: Warum sitzt du wirklich bei Regen im Dunkeln auf einer Parkbank und bietest Mädchen Zigaretten an?" Lukas schüttelt den Kopf und stützt sich nach vorne mit seinen Unterarmen auf seinen Beinen ab: „Ich hab zuerst gefragt, Zicke." - „Ich überlege, meine Ausbildung abzubrechen und suche nach einem Plan B, bevor ich es wirklich mache." Warum zur Hölle erzählt sie ihm die Wahrheit? Erst nachdem sie zu Ende gesprochen hat, wird ihr das bewusst. Normalerweise sollte er der letzte Mensch sein, dem sie so etwas erzählt. „Wozu brauchst du einen Plan B? Wenn du nicht glücklich bist, brich ab." Wenn es nur so verdammt einfach wäre, würde sie sich nicht seit Wochen den Kopf darüber zerbrechen. Ihr Schlafrhythmus hat sich mittlerweile von nachts auf tagsüber verschoben. Nachts liegt sie wach, zerdenkt alles ohne eine Lösung zu finden und tagsüber schläft sie für ein paar Stunden, weil sie dann so erschöpft vom Denken und Arbeiten ist.
„Ich bin sowieso schon eine Enttäuschung für meine Eltern, weil ich, statt zu studieren, lieber eine Ausbildung angefangen habe. Sie halten nichts davon, sich für die Arbeit kaputt zu machen. Mein Vater ist Lehrer und meine Mutter Mediendesignerin. Ich passe nicht in ihr perfektes Bild einer Tochter, die ebenfalls studiert und mit dem Chauffeur zur Uni gefahren wird.", Mila schaut betrübt auf ihre verschränkten Finger. Jetzt wo sie ihre Hände genauer anschaut, fällt ihr erst mal auf, wie dringend sie ins Nagelstudio muss, sobald sie wieder in der Schule ist. Bestimmt wird dieser Vorschlag in den nächsten Tagen auch noch von Clara kommen. Für einen kurzen Moment ist es still, bis Lukas anfängt zu reden: „Du bist keine Enttäuschung. Du gehst arbeiten und suchst sogar extra nach einem Plan B, bevor du machst, worauf du Lust hast. Ich finde, sie sollten eher sehen, wie erwachsen deine Entscheidung ist." Es ist immer noch merkwürdig, mit ihm hier zu sitzen und zu reden, als ob sie sich seit Ewigkeiten kennen, aber es war das erste Mal, dass sie ihre Gedanken laut ausgesprochen hat. „Du hast meine Frage noch nicht beantwortet.", sie dreht sich zu ihm um und bemerkt erst jetzt, dass er sie ebenfalls anschaut. Er geht mit den Fingern durch seine nassen Haare: „Ich sollte dich besser nach Hause bringen, du bist komplett durchnässt." - „Aber..." - „Ich halte es zuhause nicht mehr aus und verbringe viel Zeit draußen. Das ist alles." Sein Kiefer spannt sich sichtlich an und er zieht Mila mit ihm hoch von der Bank. Auf dem Weg zu ihrem Haus reden sie nicht. So oft wie sie hier schon zu sämtlichen Uhrzeiten hergelaufen ist, hätte er sie nicht begleiten müssen. Angst hat sie keine. Dafür wohnt sie einfach schon zu lange hier und kennt die Gegend zu gut. Noch nie ist etwas passiert, weshalb sie sich Gedanken machen müsste. Wenigstens nicht auch noch darüber, da ist kein Platz für in ihrem Kopf.
„Also...hier wohne ich. Danke, wäre nicht nötig gewesen." Lukas betrachtet das Haus, den Vorgarten und bleibt mit dem Blick an ihrem offenen Fenster mit dem kleinen Dach davor hängen: „Lehn das Fenster beim nächsten Mal an. Dann sparst du dir das Putzen, wenn es wieder reinregnet. Gute Nacht, Zicke." Bevor Mila noch irgendetwas erwidern kann, ist er schon um die nächste Ecke verschwunden. Erst jetzt fällt ihr auf, wie ihr Herz pocht und wie angespannt sie war.
Kurzerhand schiebt sie den Gedanken an Lukas beiseite, klettert in ihr Zimmer zurück und fängt an den Boden vor ihrem Fenster trocken zu wischen. Er hatte recht. Beim nächsten Mal wird sie das Fenster anlehnen. Mit trockener Kleidung und einer zusätzlichen Kuscheldecke legt sie sich ins Bett.
Als sie ihr Handy checkt, sieht sie eine Nachricht von Finn: „Bin morgen beim Shoppen dabei, Clara hat gefragt. Love you." - „Freue mich" tippt Mila schnell ein und fragt sich sofort, warum sie schon wieder lügt. Sie freut sich nicht. Sie will zuhause bleiben und ihre Ruhe haben. Es ist 23 Uhr und von Müdigkeit ist nichts zu spüren.
Aus ihrem Nachttisch zieht sie eine Tüte Chips hervor und macht auf Netflix die nächste sinnlose Serie an. Währenddessen hängt sie auf Instagram und erwischt sich selbst dabei, wie sie verschiedene Namenskombinationen testet, um das Profil von Lukas zu finden. Erfolglos.

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