Der Weckton ist so laut und durchdringend, dass Mila mit einem Mal wach ist. Ihr Kopf dröhnt, sie bekommt kaum Luft durch die Nase und ihr Hals brennt wie die Hölle beim Schlucken. Bloß nicht. Wenn sie nun krank wird und nicht arbeiten kann, wird Wilma ihr den Hals umdrehen. Es war die erste Nacht seit langem, in der sie durchgeschlafen hat. Kein Wunder, ihr Körper scheint gegen diese Erkältung zu kämpfen und dadurch ist sie erschöpft. Was soll sie nun machen? Verzweifelt greift sie nach ihrem Handy. Es ist 4:15 Uhr. Ihr Daumen kreist über der Nummer von ihrem Wohnbereich. Um diese Uhrzeit muss sie sich wenigstens nicht bei Wilma, sondern bei der Nachtschwester krank melden. Oder einfach durchziehen? Heute ist Mittwoch, also muss sie nur noch drei Tage arbeiten, bevor Wochenende ist und der Theorieblock beginnt. Allerdings könnte sie sich für nächste Woche ausruhen und wieder richtig fit werden, wenn sie sich krank meldet und den Rest der Woche zuhause bleibt. Sie überlegt, wie es Lukas wohl geht, ob er auch krank ist. Schnell schiebt sie diese Gedanken wieder beiseite. Es kann ihr total egal sein, wie es ihm geht. Sie sollte ihre Gedanken auf die wichtigen Dinge zur Zeit legen: ihre Ausbildung und ihren Plan B, falls sie die Ausbildung abbricht.
Mila seufzt und wählt die Nummer der Arbeit. Jacky, die Nachtschwester, wünscht ihr eine gute Besserung und wird die Info weitergeben. Zum Arzt kann sie erst gegen 8 Uhr. Damit Lukas sich nicht umsonst auf den Weg zu ihr macht, schreibt sie ihm, dass sie sich krank gemeldet hat. „Brauchst du etwas? Soll ich dir was vorbeibringen?", ist ziemlich schnell seine Antwort. Dankend lehnt Mila ab und schreibt noch ihrer besten Freundin, damit sie nicht an der Bushaltestelle auf sie wartet. So früh morgens soll sich niemand extra den Weg zu ihr machen, nur um Medikamente vorbeizubringen. Bestimmt findet sich im Arzneischrank das passende. Bemüht, leise zu sein, schleicht sie sich ins Wohnzimmer und durchsucht den Schrank. Bis auf ein paar Ibuprofen ist allerdings nichts brauchbares vorhanden.
Zurück in ihrem Zimmer hat sie erneut eine Nachricht von Lukas: „Lehn dein Fenster an, ich bin in 10 Minuten bei dir." Lächelnd verdreht Mila die Augen und öffnet tatsächlich ihr Fenster. Sie guckt an ihren Beinen hinunter. Eventuell sollte sie sich eine Hose anziehen und das T-Shirt von Lukas wechseln. Verzweifelt steht sie vor ihrem Schrank und überlegt, was sie anziehen soll. Wie lange will er überhaupt bleiben? Lohnt es sich, sich extra umzuziehen oder ist er nach zwei Minuten wieder weg und sie kann solange im Bett unter der Decke bleiben? Bevor sie noch mehr Zeit verschwendet, zieht sie eine Leggings und einen Pulli aus ihrem Schrank. Durch das offene Fenster ist es kalt geworden im Zimmer.
An ihrer Fensterscheibe klopft es, im Anschluss schiebt Lukas seinen Kopf herein: „Guten Morgen, Leidensgenossin. Fang!" Er wirft ihr einen kleinen Beutel entgegen, den Mila knapp auffangen kann. „Bist du auch krank?" sie zupft ihren Pulli zurecht und setzt sich aufs Bett. Lukas nimmt neben ihr Platz und zeigt auf den Beutel „Ja, deswegen alles in doppelter Ausführung. Ich hab mich bereits krank gemeldet und habe dementsprechend Zeit für dich." Hat sie das gerade richtig gehört? Er will den Tag mit ihr zusammen verbringen? In ihrem Zimmer? In ihrem Bett? „Ähm... danke, aber ich muss nachher noch zum Arzt, um mir eine Krankmeldung zu holen", nervös streicht sie ihre Haare hinters Ohr. „Trifft sich gut" er wirkt für einen Moment angespannter „Durch die Sozialstunden habe ich Attestpflicht. Ich begleite dich zum Arzt."
Um nicht angespannt herumzusitzen, rutscht Mila unter die Decke und lehnt sich mit dem Rücken an das Kopfteil. Was zur Hölle sollen sie jetzt machen, bis sie zum Arzt gehen können? Unauffällig schaut sie auf ihr Handy. 5 Uhr. Ihr Kopf dröhnt so stark, als ob sie am Vorabend zu viel getrunken hätte. Aus dem mitgebrachten Beutel zieht sie eine Packung Schmerztabletten und wirft sich eine ein. Lukas hat sie dabei beobachtet und steht auf, um sich nun direkt neben sie ans Bett zu setzen. So schnell wie ihr Herz gerade schlägt, übertönt es sogar ihre Kopfschmerzen. „Versuch noch ein bisschen zu schlafen", während er das sagt, bietet er ihr mit einer Armbewegung an, sich näher zu ihm zu legen.
Eine Welle von plötzlicher Panik überkommt Mila. Ihr wird heiß, am liebsten würde sie den Pulli auf der Stelle ausziehen und die Bettdecke erdrückt sie fast. „Bitte... geh", presst sie hervor. Es fühlt sich an, als ob jemand auf ihre Lunge drückt und sie keine Luft mehr zum Atmen hat. „Was?" „Lukas, bitte geh einfach", mit dem Blick zum Boden gewendet steht sie vor ihrem Bett. Jede Sekunde, die er mehr zögert, fühlt sich wie die Hölle an. Langsam steht Lukas auf und sieht sie fragend an: „Hab ich was falsch gemacht? Was ist los, Mila?" Die Wände erdrücken sie gedanklich bald, ihre Lungen drohen zu platzen. Unbewusst hat sie ihre Hände zu Fäusten geballt und hält diese so fest, dass ihre Knöchel weiß geworden sind. Sie hat ihren gesamten Körper so fest angespannt, dass ihr der Rücken schon schmerzt. Was der Auslöser für diese Panikattacke ist weiß sie auch nicht. Es ist ihr einfach unfassbar peinlich vor Lukas. Sie zwingt sich, ihn anzuschauen, kann durch ihre Tränen erfüllten Augen aber nur noch seine Umrisse erkennen. Kalter Schweiß bildet sich auf ihrer Stirn. Die Tränen laufen jetzt unbemerkt an ihrer Wange über den Hals herunter. Ihr Herzschlag pocht brutal laut in den Ohren und sie nimmt ihre Umgebung nur noch in Watte gepackt wahr.
Anscheinend versteht Lukas was gerade bei ihr passiert und packt ihre Unterarme. Er streicht über ihre geschlossenen Fäuste, bis sie etwas entspannen kann. „Wo ist dein Badezimmer?" flüstert er kaum hörbar. Mila nickt mit dem Kopf zur Tür neben ihren Kleiderschrank. Ein eigenes Bad im Anschluss an das Zimmer zu haben, schätzt sie sehr. Die Tränen laufen immer noch über ihre Wangen, ohne dass sie etwas dagegen machen kann. Er zieht sie behutsam mit sich ins Bad und dreht den Wasserhahn auf. „Nicht erschrecken", zusammen mit seinen Händen hält er ihre eigenen unter den Wasserstrahl. Eiskaltes Wasser läuft über ihre Handgelenke. Es dauert nicht lange, bis Mila das Gefühl hat, freier Atmen zu können. Die zweite Panikattacke nach so langer Zeit ohne. Gut, dass ihr Vater bereits einen Termin bei Frau Weber vereinbart hat. Sie findet es unfassbar anstrengend, sich auf ihren Beinen aufrecht zu halten und sackt beinahe in sich zusammen. Hinter ihr steht Lukas. Seine Arme greifen um sie herum und halten immer noch ihre Handgelenke unter den kalten Wasserstrahl. Ihr Rücken ist an seine Brust gelehnt und Mila würde es gerne verhindern, aber sie fühlt sich nicht stark genug, um alleine zu stehen.
„Es tut mir so leid", murmelt sie leise. Sie schaut in den Spiegel und fixiert Lukas Gesicht. Er erwidert ihren Blick und zieht die Schultern leicht nach oben: „So etwas muss dir nicht leid tun." Mit der einen Hand greift er nach einem Handtuch, mit der anderen stellt er das Wasser ab. Nachdem ihre Hände trocken sind, legt er eine Hand unter ihr Kinn und fixiert somit ihr Gesicht, damit sie ihn anschauen muss. „Ich glaub, ich muss mich etwas hinlegen...", Mila versucht, sich aus seinem Griff zu befreien. Er seufzt, lässt sie los und tritt beiseite: „Ich mach es nicht gerne, aber ich werde jetzt gehen... versuch zu schlafen und ruf mich an, wenn du was brauchst." Sie kann an seinem Gesichtsausdruck erkennen, dass er enttäuscht ist. „Es hatte gerade nichts mit dir oder dem, was du gesagt hast, zu tun. Ich kann es dir nur nicht erklären...", zurück in ihrem Bett fühlt Mila sich unfassbar erschöpft. Ihr ist in dem Pulli immer noch zu warm, hat aber auch nichts außer Unterwäsche drunter. Will sie überhaupt, dass Lukas jetzt geht? Was ist, wenn sie wieder eine Panikattacke bekommt, nur weil er sich nochmal neben sie legt? Würde er sich überhaupt nochmal neben sie legen, nach ihrem Verhalten gerade? Ihr Kopf schwappt schon wieder vor lauter Fragen über. Ohne etwas zu sagen, spürt sie, wie Lukas sich neben sie auf die Matratze setzt. Ziemlich erschöpft murmelt sie: „Bleib hier..."
Irgendwann ist Mila noch einmal eingeschlafen. Als sie wieder aufwacht, scheint bereits die Sonne in ihr Zimmer. Verwirrt dreht sie sich um und zuckt kurz zusammen. Lukas neben ihr, ebenfalls am Schlafen und hat einen Arm unter ihrem Nacken liegen. Wenn sie sich jetzt falsch bewegt, weckt sie ihn auf, aber sie würde auch gerne auf ihr Handy schauen. Vorsichtig tastet sie hinter sich und bekommt es gegriffen. Kurz vor 8. Passt gut, dann können sie gleich direkt zum Arzt. Clara hat ihr um kurz nach 6 geschrieben und darüber berichtet, wie sauer Wilma sei. Mittlerweile hat sie kein schlechtes Gewissen mehr. Soll Wilma doch sauer sein. Da Lukas noch tief am Schlafen zu sein scheint, steht Mila auf und sucht sich luftigere Kleidung aus dem Schrank. Nach einem prüfenden Blick zu Lukas geht sie ins Bad und zieht sich um. Mitten beim Zähne putzen hört sie, wie er sich hin und her dreht. Kurz darauf steht er im Türrahmen und grinst sie an: „Bereit, um zum Arzt zu gehen?" Sie spült ihren Mund aus und nickt. „Ich hab dir eine Zahnbürste hingelegt, falls du sie brauchst", müssen sie eigentlich darüber reden, dass sie nebeneinander eingeschlafen sind und Mila anscheinend auch noch in seinem Arm? Es fühlt sich weiterhin so an, als ob alles und jeder in Watte gepackt wäre. Ihre Augen schmerzen und sie hat dicke Augenringe. Das Druckgefühl auf ihrer Brust ist ebenfalls noch da, allerdings schränkt es nicht mehr beim Atmen ein. Mit einer Hand fährt sie sich durchs Gesicht, als ob sie die Spuren damit wegwischen könnte. Die Halsschmerzen sind stärker geworden, gefolgt von Husten.
Nachdem sie sich fertig gemacht haben und auf dem Weg zum Arzt sind, laufen sie schweigend nebeneinander her. Diese Stille erdrückt Mila von Sekunde zu Sekunde mehr.
„Du bist so ruhig, alles in Ordnung?", fragt Lukas plötzlich. „Ich bin erschöpft und krank", sie zögert dieses Thema nun wirklich anzusprechen „Ansonsten ist alles ok." Vielleicht ist es nicht der richtige Zeitpunkt, das mitten auf der Straße zu besprechen. Etwas misstrauisch beobachtet er sie eine Zeitlang von der Seite, nickt und belässt es dabei.
Mila bekommt beim Arzt eine Krankschreibung für die restliche Woche, Antibiotikum und Bettruhe verordnet. Die Panikattacke hat sie verschwiegen. Darum kümmert sie sich nächste Woche. Lukas ist ebenfalls krank geschrieben, aber ohne Medikamente. Ihn hat es nicht ganz so schlimm erwischt. Er soll sich aber am besten auch im Bett ausruhen.
„Ich bring dich noch nach Hause", er grinst sie an, als sie aus der Arztpraxis raus auf die Straße treten „Ich kann deinen Krankenschein dann mit meinem zusammen im Heim abgeben, wenn du magst." Sie nickt: „Danke." Es liegt ihr immer mal wieder auf der Zunge, sich für heute Morgen zu erklären und zu entschuldigen. Kurz bevor sie anfangen will zu reden, macht sie jedes Mal einen Rückzieher. Dabei hätte er es definitiv verdient.
„Kommst du noch mit rein, bevor du gehst?", Mila kramt den Schlüssel aus ihrer Tasche. In ihren eigenen vier Wänden hat sie eventuell eher den Mut dazu, ihm mehr über ihre Panikattacken zu erzählen. Dazu kommt noch, dass sie das mit Lukas alles insgesamt ein wenig überfordert. Sie hat ihn anscheinend sehr gerne bei sich, aber wäre es ihm gegenüber nicht fair, ihm zu erzählen, dass sie noch keinerlei Erfahrungen in Sachen Jungs hat? Bisher war sie immer nur mit ihnen befreundet und nie weiter gekommen. Oder ist das viel zu überstürzt? Die Möglichkeit, dass er sie nur als Freundin sieht, darf sie nicht außer Acht lassen. „Klar, hab ja jetzt genug Zeit", anhand seiner Tonlage kann sie sofort das Lächeln raushören. Als sie die Tür aufschließt, horcht sie kurz ins Haus hinein. Es ist niemand da. Ihre Eltern würden nie komische Fragen stellen, dennoch kann Lukas das Treffen erspart bleiben.
In ihrem Zimmer setzt er sich auf ihr Bett und schaut sie an: „Können wir über heute Morgen reden oder lieber nicht?" Unentschlossen und leicht beklommen bleibt Mila vor ihm stehen. Vorsichtig nickt sie. „Ich war früher in Therapie. Andauernd kam eine Panikattacke... aber in eine Klinik wollte ich nicht. Es war schwer in der Schule mithalten zu können, irgendwie hab ich es geschafft. Mein einziger Gedanke war, dass ich meine Eltern nicht noch mehr enttäuschen wollte. Gina, meiner Mutter, war es peinlich, weil sie psychische Krankheiten für abnormal hält. So viel Streit wie zu dem Zeitpunkt gab es noch nie", brach es plötzlich einfach aus ihr heraus und sie erzählte ohne nachzudenken immer weiter „Mein Vater hat immer versucht mich zu unterstützen. Er hat mit meinen Lehrern gesprochen und mich zuhause gelassen, wenn er gemerkt hat, dass ich nicht mehr kann und mich zu jeder einzelnen Sitzung begleitet. Irgendwann wurde es besser, ich bin dann sogar gerne dorthin gegangen. Bis ich monatelang frei von Attacken war und meine Motivation gesunken ist, weiterhin dahin zu gehen." „Wirst du wieder damit anfangen?" Lukas nimmt behutsam ihre Hand und streichelt mit seinem Daumen über ihren Handrücken. Ein kalter, jedoch trotzdem angenehmer, Schauer durchfährt sie. „Ja, ich hab nächste Woche meinen ersten Termin wieder. Mein Kopf ist momentan so voll..." Rücklings lehnt sie sich gegen ihren Schrank. Ob sie einfach weiter erzählen soll? Interessiert es ihn denn? Es ist schwer einzuschätzen. Eventuell bemerkt er ihre zweifelhaften Blicke, denn Lukas steht auf und kommt zu ihr. „Was ist noch los?", er fängt an, sie zu umarmen „Sag's einfach." Während er sie im Arm hält, merkt sie, wie sie wieder müde wird und auf der Stelle einschlafen könnte. „Lass uns wann anders weiterreden, ich bin echt müde", gähnend versucht sie sich von ihm zu lösen. „Mila... beantworte mir vorher eine Frage, bitte", er scheint es wirklich ernst zu meinen. Sein Griff an ihrer Hüfte wird etwas fester. „Hab ich irgendwas gemacht, was falsch war und was die Panikattacke ausgelöst hat?" Unbewusst legt sie ihre Hand auf seine an ihrer Hüfte, weswegen er den Griff lockert, aber nur um ihre Hand zu ergreifen. Ihr Atem stockt kurz. Was passiert hier gerade? Warum zur Hölle ist es ihm so wichtig, was der Auslöser war? Es ist verdammt nochmal unangebracht das er sie so anschaut. Mila versucht, sich selbst wieder zur Vernunft zu rufen. Hoffentlich macht keiner von beiden jetzt etwas dummes, denkt sie sich. So schnell darf das doch normalerweise gar nicht gehen, oder? Seine grünen Augen funkeln regelrecht. Bevor sie komplett den Verstand verliert, schaut sie zur Seite aus dem Fenster: „Du hast nichts falsch gemacht. Es ist nur... also, ich war überfordert, weil ich vorher noch nie mit einem Jungen in einem Bett gelegen hab oder Ähnliches. Das ging alles so schnell, ich wollte nicht so panisch reagieren." Die Röte schießt merkbar in ihre Wangen. Überrascht und ziemlich perplex zieht Lukas seine Augenbrauen hoch. „Oh!", grinst er „Ich find das süß." Süß? Ist das sein ernst oder will er sie auf den Arm nehmen?
Keiner von beiden redet anschließend weiter darüber. Lukas verabschiedet sich von ihr, nachdem er sich mehrmals vergewissert hat, dass er sie alleine lassen kann. „Wenn was ist, schreib mir oder ruf mich an", er nimmt sie ein letztes Mal in den Arm, bevor er geht.
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Keiner weiß
RomanceMila ist hin- und hergerissen zwischen ihrer Ausbildung, dem Wunsch abzubrechen, der Bewältigung von anbahnenden Depressionen und ihres normalen Alltags, bis sie Lukas kennenlernt und alles so viel einfacher erscheint...