12 ☾ SIE

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In mir vermengen sich gemischte Gefühle zu einem merkwürdigen Klumpen. Ist es gut, wenn ich Frederik mit Cil alleine lasse? Andererseits freue ich mich, endlich Dira wiedersehen zu können. Ich schaue hoch hinauf und auch wenn ich nur den Schatten unseres Mondes erahnen kann, schicke ich ihm meinen Dank, dass sie und Lesuna wohlauf sind. Dass sie hier in Sicherheit sind. Das Gespräch wird sicherlich gut verlaufen zwischen den beiden Männern. Sie scheinen sich mindestens kameradschaftlich angenähert zu haben.

Ich streichel Fritzi noch einmal vom Köpfchen über den Rücken bis zu ihrer Rute und setze mich dann mit ihr in Bewegung. Mehr als eine Woche – nein, einen Monat – war ich fort. So oder so, es kommt mir vor wie eine Ewigkeit. Und noch länger ist es her, dass ich hier war. Wann ich das letzte Mal Dira und Lesuna gesehen habe? Ich weiß es gar nicht genau. Zuletzt, vor meiner Abreise zu der Mission, war ich mit den dazugehörigen Vorbereitungen beschäftigt. Ich hatte kaum Zeit für etwas anderes. Basistraining als Auffrischung mit der Herstellung von Speeren und anderen wichtigen lebenserhaltenden Maßnahmen war mein Pflichtprogramm, darunter zählte auch, wie ich mein Armband mit den korrekten Koordinaten einstelle. Plötzlich prasseln all diese Erinnerungen wieder in mich hinein. An die letzten Wochen vor dem Aufbruch.

Egal, was passieren wird, Jeu. Du bist stark und mutig. Du kommst nach deiner Mutter. Du bist eine Kämpferin.

Papi sagte das zu mir. Ich mache das für sie. Das war meine Erwiderung, sowie dass ich ihn aber vor allem sie stolz machen wollen würde.

Vor der nächsten Biegung auf dem naturbelassenen Pfad, die so anders sind als auf der Erde, die mich unmittelbar wieder leichter über den Boden gleiten lassen, bleibe ich stehen und drehe mich um. Sie stehen noch dort. Nur einige Meter entfernt und doch sind sie mir gerade gefühlt zu weit weg. Ich hebe meine Hand, Frederik tut es mir gleich und wir winken uns gegenseitig zu. Als ich ihm aufmunternd zunicke und er diese Geste erwidert, sehe ich im Augenwinkel, wie Cil mich direkt anblickt. In seinen Augen schimmert zu viel, als das ich alles darin zu greifen bekomme. Neugier? Zweifel? Oder gar List? Mein Atem halte ich an. Frederik scheint davon nichts mitbekommen zu haben. Er lässt seine Hand sinken und wendet sich Cil zu. Obgleich er mich nicht weiter anschaut, fühle ich mich noch immer in seinem Blick gefangen. Mein Herz holpert. Meinen angehaltenen Atem ausstoßend gucke ich ihnen hinterher, wie sie sich auf den Weg machen. Was hat das zu bedeuten? Hoffentlich lieber Mond – ich schaue wieder nach oben und umkreise gedanklich seinen Rahmen – habe ich lediglich zu viel in seinen Augen gesehen. Bösartiges kann ich mir nicht vorstellen, jedoch konnte ich mir auch so vieles anderes vorher nicht ausmalen. Meine Hand wandert zu meinem Oberkörper und legt sich auf Herzhöhe. Es ruckt ziemlich doll und unregelmäßig gegen meine Finger. Langsam setze ich mich erneut in Bewegung. Die ersten Schritte holpere ich genauso wie mein Herz. Mit jeder Berührung des Bodens entspannt sich mein Körper ein kleines bisschen.

So lange du keine Gewissheit hast, mache dir nicht zu viele Gedanken.

Du hast immer gut reden, Papi!, tadele ich ihn gedanklich, wobei ich mit dem Fuß leicht aufstampfe. Und wieder komme ich zum Stehen. Manchmal frage ich mich, ob er in solchen Situationen schon einmal war. Doch im nächsten Moment wird mir klar, welchen Unsinn ich denke. Er ist unser Staatsoberhaupt. Dadurch wird er bereits in viel prekäreren Lagen gesteckt haben. Doch es ist so anstrengend. Prompt kommt mir wieder dieser wenig hilfreiche Kokosnuss-Spruch in den Sinn.

Es ist genauso wie als Kleinkind an eine Kokosnuss zu gelangen, die noch an einer Palme hängt.

In Ordnung. Ich halte für mich fest, dass ich versuche, mir so wenig wie möglich Gedanken zu machen und es nun mal anstrengend ist wie mit einer Kokosnuss als Kind ... Vielleicht kann mir Dira weiterhelfen. Mein Kinn wieder etwas gereckt sowie meinen Rücken durchgestreckt, stelle ich mich gerade hin. Aus meinen Armen schüttle ich die restliche Anspannung.

Gerade möchte ich Fritzi ein Zeichen geben, dass wir weitergehen können, da bemerke ich erst, dass sie nicht mehr an meiner Seite ist. Ich bemerke, wie die Angst bereits ihre Klauen ausfährt und von innen überall zunächst ziellos nach mir greift. Mein Blick schweift umher.

Da sehe ich sie. Ein Stück weiter wartet sie auf mich. Mit schief gelegtem Kopf und gespitzten Ohren schaut sie mich friedlich an, so als würde sie mir zeigen wollen, dass alles in Ordnung ist. Auch ich lege meinen Kopf leicht schräg und blicke sie an. »Ja, ich werde versuchen, darauf zu vertrauen. Und nun lass uns zu Dira und Lesuna gehen. Sie werden sicher entzückt sein, dich kennenzulernen, meine liebe Fritzi«, sage ich ihr, wobei ich mich auf sie zu bewege und sie schwanzwedelnd auf mich wartet.

Endlich gelangt die Holzhütte mit ihrem einzigartigen Pflanzendach in unser Sichtfeld. Grundsätzlich ähnelt jede Hütte der anderen, doch wir haben diese ihre, in der ich so viele Stunden verbracht habe, immer mal wieder aufgehübscht und abgefallene Blüten oder andere uns von der Natur überlassene Andenken mit eingeflochten. Meine Freude scheint auf Fritzi überzugehen, die nun ebenso – neben mir her hopsend – flinker darauf zu eilt.

Auch wenn ich früher ohne Vorwarnung hineingegangen bin, wäre mir das heute zu forsch. Daher klopfe ich mit pochendem Herzen an ihren Eingang und warte hibbelig darauf, dass eine von ihnen zur Tür erscheint.

Meine Hand ruht auf Fritzis Kopf, die sich geduldig neben mich hingesetzt hat. Von drinnen vernehme ich leises Getuschel. Wenn sie unbemerkt bleiben wollten, sollten sie an dieser Eigenschaft noch üben. Das Warten macht mich noch wirr. Obwohl mir bewusst ist, dass sie nicht wissen, dass ich hier stehe und ich mir nicht ausmalen kann, was sie eventuell denken könnten, wer an ihrer Tür steht, kann ich nicht anders, als meine Hand noch einmal zu heben. Als ich gerade ansetzen will, bestimmter dagegen zu klopfen, öffnet sich der Eingang einen winzigen Spalt. Dadurch, dass es hier draußen so viel heller ist als bei ihnen drin, kann ich nur erkennen, dass mir ein Augenpaar entgegenblickt. Wenn mich nichts täuscht, sind es ihre hellbraunen Augen. Neben mir höre ich, wie Fritzis Rute auf dem Boden hin und her streift und dabei Staub sowie Blätter mit sich zieht. Sekunden vergehen, die sich grausam anfühlen.

»Jeu? Bist du es wirklich, Jeu?« Ich erkenne die Stimme, die so viel Kummer mit sich trägt. Es bildet sich direkt ein Kloß in meinem Hals, sodass ich nur ein Nicken zustande bringe. »Schätzchen. Welch ein Glück!« Sie reißt die Tür auf, zieht mich in eine feste Umarmung und drückt mich so sehr an sich, als würde sie mich nicht mehr loslassen wollen.

»Mama! Jeu bekommt sicherlich keine Luft mehr. Du zerdrückst sie noch.« Ich hebe meine Lider, unter denen sich Tränen hervor zwängen und schaue über Lesunas Schulter.

Dort steht Dira. Meine Haut wird unvermittelt von einer Gänsehaut erfasst. 

Lun-ValeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt