54 ☾ SIE

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Ich umfasse das Armband und denke dabei an diese Wiese. Diesen wunderschönen Platz. Der mir an diesem tristen Ort Ruhe gönnte. Mit geschlossenen Augen mache ich einen Schritt ... Wiese ... Diese Wiese. Mit dem hohen Gras. Als ich die Augen wieder öffne, bin ich da ...

Mist. Ich stehe auf der Wiese. Mist. Irgendwo mittendrin. Mist. Allein. Was soll ich nun tun?

Hektisch drehe ich mich im Kreis. Und ich bin kurz davor, die Grashalme herauszuzupfen. Oder wegzuschlagen. Das kenne ich gar nicht von mir.

»Mondmädchen.« Ich bin wütend und voller Frust, ja! Dieses bescheuerte Tuch ziehe ich mir vom Kopf herunter, sodass es nur noch um meinen Hals hängt.

Was ich tun soll?, frage ich mich nun selbst. Was wohl? Du musst zu Waldtraud und Wilma!

Aber nicht über die Wege und Pfade, wer weiß, wo sie noch nach mir suchen. Bitte lieber Mond, bitte, lass die beiden verschont haben. Sie sind doch zwei gutherzige Menschen. Flehend blicke ich ihn an.

Wohin könnte ich mich teleportieren? Mir fällt nur diese eine Stelle ein ... Ob das zu gefährlich ist? Ich weiß es nicht. Aber ich muss es versuchen. Bevor sie mich und uns alle finden. Ich muss danach die anderen warnen gehen.

Ich schließe meine Augen, reibe das Armband und stelle mir den Platz vor. So gut es geht. Knirschender Boden. Holz. An den Seiten. Nur noch wenig. Mit Rissen. Und Löchern. Gestrüpp an einzelnen Stellen. Das Bild formt sich nach und nach in meinem Geist. Bis ich glaube, dass ich es vollständig gebildet habe. Bitte, lass mich dort ankommen und bitte, lass mich dort alleine sein. Dann schreite ich einen kleinen Schritt weiter. Am Untergrund spüre ich bereits, dass ich mich woanders befinden muss. Das hohe Gras ist nicht mehr um mich herum. Nur zögerlich öffne ich meine Lider einen Spalt. Erleichtert atme ich aus. Doch mein Herz klopft nach wie vor wild in meiner Brust.

Ich ducke mich und horche in die Nacht hinein. Nichts.

Die Hütte sieht wie die Male zuvor verlassen aus. Da ich keine Zeit verlieren – und schon gar nicht unnötige Aufmerksamkeit auf uns alle ziehen – mag, husche ich von dem kleinen Pfad, auf dem ich mich befinde und der zu ihrem Garten führt, zu dem Hintereingang.

Ohne anzuklopfen – weil ich mich an das Bild von Frederik, wie er die Pfanne von Waldtraud über seinen Kopf gezogen bekam, erinnere –, betrete ich ihre Behausung und nach nur wenigen schleichenden Schritten durch den kleinen schmalen Flur schreite ich in ihre Stube. Immer wieder sehe ich mich um, kann aber niemanden ausmachen.

Erst jetzt. Waldtraud auf ihrem Sessel mit einem seligen Lächeln auf den Lippen. Es tut mir leid, sie bei ihrem Schlaf zu stören, doch wir müssen uns beeilen.

Ich beuge mich etwas zu ihr hinunter und berühre ihre Hand mit meiner. Erschrocken weiche ich zurück. Ihre Finger sind kalt und eigenartig steif. Wie kann das sein in so kurzer Zeit?

Waldtraud ... Wieso? Wir, nein ich! Ich habe sie im Stich gelassen. Ich war nicht schnell genug. Sie hat alles für mich getan. Nur noch durch einen Schleier, der sich mehr und mehr trübt, sehe ich ihre anmutige Gestalt vor mir. Ich habe versagt. Mein Körper krümmt sich immer mehr und ich kann nichts dagegen machen. Meine Tränen fließen. Nur durch mich und meine Erinnerungen, die mich so hartnäckig meine Entscheidung zum Aufbruch durchsetzen ließen. Wieso musste ich so verdammt schnell aufbrechen wollen? Um nach Hause zu kommen ...

Ich habe es vor Augen, als wir uns verabschiedet haben. Wie wir ihnen zugewunken haben. Ich hatte gehofft, diese wunderbare Frau einst wiedersehen zu können.

»Sie ist gestern – nicht lange nach euch von uns gegangen«, höre ich Wilmas gebrochene Stimme in meinem Rücken. Sie ist also noch hier.

»Wilma ...«, flüstere ich und drehe dabei meinen Kopf leicht zu ihr. »Ich nahm an, dass du bereits ... Nachdem ...« Ich schaffe es nicht, es auszusprechen. Stattdessen wende ich meinen Kopf wieder zu der ruhenden Frau vor mir und senke meine Lider.

Ich höre ihre herannahenden Schritte. »Hatte ich vor, doch ich konnte es noch nicht.« Sie legt eine Hand auf meine Schulter. »Lass uns nun gemeinsam gehen«, sagt sie. Ihre Stimme ist voller Schmerz. Nach einem kurzen Augenblick zieht sie ihre Hand wieder weg und geht Richtung Flur, in dem sie eine Tasche öffnet und offenbar noch etwas verstaut.

Ich richte mich etwas auf und wende mich noch einmal Waldtraud zu. Sie sieht nach wie vor friedlich auf ihrem Sessel aus. Ihre Augen sind geschlossen. Wilma hat sich vermutlich bereits verabschiedet. Dieses Mal bin ich vorbereitet. Ich lege noch einmal meine auf ihre Hand. Die Kälte, die von ihr ausgeht, lässt mich erneut erschüttern, aber ich schrecke nicht zurück. Ich hoffe, du findest deinen Frieden, Waldtraud. Gerade als ich meine Hand wegnehmen möchte, fällt mir die Platte auf ihrem Schoß auf, mittels derer ich mich mitteilen konnte, als meine Sprache anders war.

Geht in Frieden sowie auch ich. Ich schließe meine Augen mit einem Lächeln. Seid euch dessen gewiss. Lebt wohl und auf Wiedersehen.‹

Erneut entkommen Tränen meinen Augen und laufen über mein Gesicht. Ich versuche es. Wir alle werden es. Versprochen. Auf Wiedersehen, Waldtraud.

Mit einem traurigen Lächeln drehe ich mich zu Wilma um. Ihr Blick sagt mir, dass auch sie die Botschaft gesehen hat. Wir nicken uns stumm zu und wissen, dass nun wirklich die Zeit gekommen ist, um zu verschwinden. Jede Minute mehr wird ein Risiko.

»Möchtest du mit nach Lun-Vale, meinem Zuhause?«, frage ich sie dennoch, da sie noch nichts von dem Plan weiß.

»Ich nehme an, dass es das Klügste ist, oder?«, erwidert sie mit einem leichten Grinsen. Sie hatte es sich also bereits denken können.

Was hat Wilma eben gesagt? »Du sagtest nicht lange, nach dem wir gegangen sind?«

»Ja, ihr seid gestern von uns aufgebrochen«, klärt sie mich verwirrt auf.

»Verstehe.« Also verläuft die Zeit tatsächlich in beide Richtungen so unterschiedlich. Ich überlege. »Weißt du. Grob überschlagen ergibt eine Woche auf Lun-Vale einen Tag hier. Frederik und ich waren auf Lun-Vale. Wir sind hier, um euch und viele andere zu retten.«

Doch nun ... keimt ein sorgenvoller Gedanke in mir auf. Wenn wir nicht lange fort waren – also für die Erdzeit –, wissen manche eventuell gar nicht, dass wir je gegangen sind. Vermutlich suchen sie noch genau so nach uns, als wären wir weiterhin auf der Flucht vor ihnen. Mich schaudert es.

Wilma bemerkt mein Zögern, doch sagt sie nichts konkret dazu. Sie wartet geduldig an der Tür. »Du sagst, wenn du bereit bist zum Losgehen, okay?«  

Lun-ValeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt