3. Schande

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An einem neuen Wochentag beschloss Annabelle auf Geheiß ihrer Mutter Silence in die Stadt zu begleiten, um ihr beim Wocheneinkauf behilflich zu sein. Zwar wäre sie lieber auf ihrem Anwesen geblieben, aber das gab Annabelle gleichzeitig die Möglichkeit, das Mädchen besser kennenzulernen, das gewöhnlich dafür bekannt war, wie ein Grab zu schweigen. Trotz ihrer verschlossenen Art hatte sie Thomas in ihren Bann gezogen, der sicherlich nicht grundlos Interesse an ihrem Dienstmädchen zeigte.

An der Tür drückte Judith ihrer Tochter einen Einkaufszettel in die Hand und trug ihr auf, noch vorher Mr. Sutton in der Bank einen Besuch abzustatten und dort um einen Geldzuschuss für den Wocheneinkauf zu bitten. Annabelle grämte es, ständig für solche Angelegenheiten erst ihren Vater um Erlaubnis zu bitten, der als Patriarch ihrer Familie den Finanzhaushalt beherrschte und nicht davon absah, bei den einfachsten Anschaffungen konsultiert zu werden. Ohne seine Einwilligung würde kein Groschen fließen, weswegen Annabelle missmutig ihren Sonnenhut aufsetzte und sich gemeinsam mit Silence auf dem Weg nach Armadillo machte.

Schweigend schlenderten die beiden Frauen in ihren langen Kleidern auf dem staubigen Weg nebeneinander her, die Kleinstadt lag nur eine Meile von ihrem Anwesen entfernt, dennoch durfte sich Annabelle nur zu allen heiligen Zeiten dort blicken lassen. In sich gekehrt starrte Silence in die Ferne, während Annabelle angestrengt darüber nachdachte, wie sie ihr Vertrauen gewinnen konnte und freundlich anmerkte: „Wir sagen es vielleicht nicht offen, aber wir alle sind dankbar für deine Unterstützung im Haus. Seitdem du hier bist hat sich so vieles zum Bessern gewendet, auch wenn meine Mutter es nicht immer nach außen hin zeigt...", was noch schön für das undankbare Verhalten formuliert war, denn die einzige Dankbarkeit drückte sich wohl in der wöchentlichen Lohnauszahlung aus. Deswegen war es an der Zeit, sich auch mit Worten bei ihr zu bedanken: „Wir... oder besser gesagt ich bin froh darüber, dass du hier bist. Vor deiner Zeit konnte man zum Beispiel das Essen auf dem Tisch nicht wirklich anrühren.", was Silence endlich zum Lachen brachte.

Leider schaffte Annabelle es dadurch nicht, das Eis zu brechen, und fragte sie deshalb: „Wo hast du so gut kochen gelernt?". Das Mädchen antwortete mit piepsiger Stimme: „Von meiner Tante Pleasence - nachdem meine Mutter im Kindbett gestorben ist, hat sie das Essen immer gekocht. Und irgendwann hab ich diese Aufgabe übernehmen müssen.", was der jungen Miss Sutton leid tat. Nur wusste sie nicht, wie sie ihr Mitgefühl ausdrücken sollte, und erwiderte darauf: „Uns allen scheint es zu schmecken, auch Thomas. Nur bei deinen Kochkünsten wundert es mich nicht, dass er immer den ganzen Teller leer isst.", und sofort wurde Silence wieder schweigsam. Vielleicht ahnte sie bereits, dass Annabelle mehr wusste, als ihr lieb war.

Jene hielt es nicht länger aus, ihr die Wahrheit vorzuenthalten und offenbarte: „Anscheinend sind es aber nicht nur deine Kochkünste, die ihm gefallen. Ich weiß, dass ihr beiden euch gut versteht - besonders beim Kartoffelschälen...".

Abrupt blieb Silence auf der Stelle stehen und blickte die junge Miss Sutton mit großen, glasigen Augen an. Wie ein scheues Reh stand das 16-jährige Mädchen da, als würde sie beinahe in Tränen ausbrechen. Annabelle konnte ihr die Angst ansehen, welche sie ihr nehmen wollte und an sie herantrat: „Keine Sorge. Euer Geheimnis ist bei mir sicher.", und legte behutsam eine Hand auf ihre spitze Schulter.

„Sicher?", raunte ihre brüchige Stimme und Annabelle nickte zuversichtlich. Silence war äußerst schüchtern und lebte in ständiger Angst. Mit der Offenbarung ihrer unziemlichen Beziehung zu Thomas Sutton, die sie vor seiner Familie lieber geheim halten wollte, war sie überrascht von der willkommensfreundlichen Reaktion seiner Schwester, die daran anfügte: „Trotzdem würde ich an eurer Stelle eure Spielchen eher ins Schlafzimmer verlagern, denn ich weiß nicht, ob meine Eltern über diesen Anblick so erfreut wären.".

In nur wenigen Minuten erreichten sie den Stadtrand von Armadillo, in denen Annabelle alles zu ihrer Beziehung in Erfahrung bringen wollte und sie mit Fragen durchlöcherte: „Du bist erst wenige Monate hier und hast schon gleich meinen Bruder um den Finger gewickelt. Ist er dir nicht etwas zu alt?", denn die beiden trennten fast 10 Jahre, was Silence nicht sonderlich störte und ihr antwortete: „Ich weiß, was du denkst. Eigentlich gehört sich das nicht. Aber Alter ist nur eine Zahl. Ich liebe Thomas und Thomas liebt mich. Das ist alles, was zählt.". Das ließ sich leicht sagen, dachte sie sich, wenn man aus einer Familie stammte, die nicht viel zu bieten hatte.

Irgendwie befürchtete die junge Miss Sutton, dass es das Dienstmädchen nicht ernst mit Thomas meinte. Er war ein leichtherziger Narr, der schnell Gefühle entwickelte, vor allem für das andere Geschlecht; so hatte er in der Vergangenheit viele Tränen für die Prostituierten im Saloon vergossen, wenn er diese am nächsten Tag auf dem Schoß eines anderes Mannes sitzen sah. Doch der schlimmste Vorfall ereignete sich vor drei Jahren, als Thomas sich dem Willen ihres Vaters fügte und nach Blackwater zu ziehen, um eine Ausbildung zum Anwalt zu beginnen. Aber nach nur einem halben Jahr hatte er alles hingeschmissen, weil er einem Freudenmädchen aus ihrer misslichen Lage helfen wollte, indem er ihr einen Heiratsantrag gemacht hatte. Mr. Sutton war daraufhin fuchsteufelswild nach Blackwater gereist, er hatte seinen Sohn zurück nach Armadillo gezerrt und ihm eine Anstellung in der Postmeisterei verschafft. Was aus dem Freudenmädchen wurde, wusste Annabelle nicht; lediglich, dass die Ehe annulliert worden war und Thomas den Ring nach wie vor in einer Schatulle unter seinem Bett aufbewahrte.

Obwohl ihr Vater verboten hatte, darüber zu sprechen, war diese Angelegenheit ein offenes Geheimnis in ganz Armadillo. Ein Geheimnis, von dem auch Silence wissen könnte. Annabelle wollte ihr nichts unterstellen, aber es war trotzdem möglich, dass Silence von ihrer Familie, die Geld mehr denn je brauchte, dazu beauftragt wurde, dem Jungen schöne Augen zu machen - ein abgekartetes Spiel, in der Hoffnung, an den Besitz der Suttons zu gelangen.

Annabelle bemerkte zu spät, dass da soeben ihr Vater aus ihr sprach. Sofort verwarf sie den Gedanken, als beide die Bank von Armadillo erreichten. Besorgt flüsterte Annabelle zu dem Mädchen: „Versprich mir, dass du es ernst mit Thomas meinst. Ich kann es nicht haben, wenn man meinem Bruder das Herz bricht.". Silence griff ungefragt nach ihren Händen, im nächsten Moment ging sie vor dem Eingang auf die Knie und erklärte ergriffen: „Ich meine es ernst, Mylady! Wirklich!", ihre schwarzen Augen funkelten sie an, während sie damit begann, ihre Finger zu küssen.

Erschrocken von dieser Geste entzog sich Annabelle ihrer Berührung und half ihr hoch, denn Passanten schauten die beiden schief an und lachten sich ins Fäustchen. Die junge Miss Sutton wollte vermeiden, dass alle glaubten, sie würde ihr Dienstmädchen wie eine Sklavin behandeln. Behutsam zog sie Silence zur Seite und redete auf sie ein: „Bitte, mach das nie wieder - ich glaube dir.", denn was das Herz begehrte, dass ließ sich nicht erklären. Auch wenn sie an den Beweggründen ihres Bruders zweifelte, musste sie wohl akzeptieren, dass der konservative Bänker Gefühle für dieses sanftmütige Geschöpf entwickelte hatte. Nur war es eine Frage der Zeit, bis die Wahrheit ans Licht kam. Und im Regelfall tat sie das immer.

Schon bald schlug die Uhr 12, die Mitarbeitenden der Bank wollten sicherlich auch Mittagspause machen, weswegen sie sich beeilen musste. Annabelle unterwies das Dienstmädchen, vor der Bank auf sie zu warten. Die Bank selbst war im Vergleich zu allen anderen Häusern in der Stadt klein und beschaulich, wenige Fenster bestückten das backsteinerne Gebäude, das eher nach außen hin an eine Spelunke erinnerte. Erst, als man durch die Tür trat, konnte man erkennen, dass es sich hier um ein Geldinstitut handelte. Miss Sutton umklammerte fest ihre kleine Handtasche, hinter dem vergitterten Schalter entdeckte sie zu ihrem Übel Rufus, der sich mit dem ortsansässigen Hilfssheriff unterhielt. Eigentlich wollte sie ihm für den Rest ihres Lebens aus dem Weg gehen, aber das konnte sie sich abschminken, wenn sie zu ihrem Vater wollte.

Rufus war völlig verschwitzt, sein Anzug ganz nass, ein strenger Geruch bestehend aus Schweiß, Zigarettenrauch und Aftershave lag in der Luft. Zu Beginn bemerkte man Annabelle nicht, sie stellte sich hinter den Hilfssheriff, der neugierig fragte: „Und was ist mit deinem Jungen? Baxter? Er kann doch nicht ohne Mutter aufwachsen.", „Meine Schwägerin kümmert sich um ihn. Sie ist... oh, Miss Sutton!". Auch der Hilfssheriff, Leigh Johnson, wurde auf sie aufmerksam, wodurch Annabelle wusste, dass sie keinen Rückzieher mehr machen konnte.

Rufus stand von seinem Stuhl auf und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn, als sie an die Theke trat. Bei jedem ihrer Schritte knarrten die alten Dielenböden, ein einziger, ausgewaschener Teppich bestückte den Boden, der angesichts des dreckigen Staubs lange nicht mehr gekehrt wurde. Leigh schenkte dem Mädchen im Vorbeigehen einen vielsagenden Blick, den Annabelle nicht zu deuten wusste, ehe er sich nach draußen verabschiedete.

Selbstbewusst stellte sie sich vor den Bankkassierer, der neugierig durch das Gitter schaute und erheitert sprach: „Wie immer sehen Sie vorzüglich aus... ich hoffe doch, dass Sie nicht gekommen sind, um mich auszurauben?", auch Annabelle schmunzelte über diese Vorstellung, aber widersprach ihm: „Nein, heute nicht. Ich möchte zu meinem Vater.", wofür sie hoffentlich keinen Termin brauchte, denn sie war Familie. Und Familie sollte Vorrang vor dem Geschäft haben.

Rufus senkte den Blick, als er zu einer Antwort ansetzte: „Mr. Sutton befindet sich gerade in einem Gespräch... er ist sicher bald fertig, Sie können derweilen hier mit mir warten.". Auf gar keinen Fall. Es war ihr peinlich genug, persönlich in der Bank erscheinen zu müssen, aber ihre freie Zeit mit diesem Unhold zu verbringen, der ihrem Vater vorgeschlagen hatte, sie ins Kloster zu schicken? Niemals. Entnervt fragte sie ihn: „Seit wann ist mein Vater so unglaublich beschäftigt? Kann er sich nicht einmal fünf Minuten für seine Tochter nehmen?". Rufus konnte nicht so schnell schauen, da kam Annabelle schon längst um den Schalter geschritten und verschaffte sich selbstständig Zugang zu den Hinterräumen. Verzweifelt versuchte er, die junge Miss Sutton aufzuhalten, aber Annabelle begab sich ungefragt zu seinem Büro.

Wie erwartet saß ihr Vater hinter seinem Schreibtisch, umzingelt von unzähligen Papierstapeln, während sich sein Gesprächspartner zur Tür umdrehte. Es war der Sheriff von Armadillo, Marshall Calvin Draper. Auch wenn er Besuch hatte, kümmerte das Annabelle wenig, sie schaute geradewegs zu ihrem Vater, der sichtlich überrascht über das Auftauchen seiner Tochter war. Sein Angestellter erklärte ganz aufgeregt: „Es tut mir leid, Sir. Ich habe ihr gesagt, dass Sie beschäftigt sind, nur....", „Meine Mutter schickt mich.", fuhr ihm Annabelle ins Wort, „Ich brauche Geld zum Einkaufen.".

Mr. Sutton lehnte sich in seinen ledernen Schreibtischstuhl zurück und faltete die Hände auf seinem Bauch zusammen. Sie war direkt, das musste er ihr lassen, weswegen er auch eine Schublade aufsperrte und einen Bündel Dollarscheine auf den Tisch warf, aus dem er lediglich einen 20 Dollar-Schein zog: „Das muss reichen.", „Nicht mehr?", in der Hoffnung, in der Anwesenheit des Sheriffs ein paar weitere Kröten aus ihm heraus zu kitzeln - ohne Erfolg: „Nicht mehr und nicht weniger.". Annabelle trat nach vorne, an die Seite des Sheriffs, und wollte nach dem Geldschein greifen, aber ihr Vater umfasste ihr Handgelenk und zog sie halbwegs über den Tisch, sodass er ihr gefährlich nahe kam: „Nur in den Gemischtwarenladen, verstanden?", finster starrte sie zurück in seine leeren Augen, bevor sie den Schein in ihrer Handtasche verschwinden ließ und ohne ein weiteres Wort aus dem Büro abzog.

Was ihr noch weniger gefiel war Rufus, der ihr auf dem Weg hinaus auf Schritt und Tritt folgte und ramenterte: „Schämen Sie sich nicht dafür?", „Für was?", „Dafür, dass Sie Schande über ihren Vater bringen.". Miss Sutton kam vor der Tür zum Stehen und holte tief nach Luft. Das Wort Schande machte sie rasend vor Wut, aber anstatt ihre Handtasche gegen seine Visage zu dreschen, antwortete sie in ruhiger Tonlage: „Ich bin nicht auf der Erde, um den Erwartungen anderer gerecht zu werden, Sir. Vielleicht bringe ich damit Schande über meinen Vater, aber zumindest kann ich am Ende des Tages noch in den Spiegel schauen.".

Zu ihrer Erleichterung ging die Tür auf, drei Männer traten in den Vorraum der Bank, um die sich Rufus kümmern musste. Annabelle wandte sich von Rufus ab, machte kehrte und wollte diesen schändlichen Ort verlassen. Einer der Herrschaften hielt ihr die Tür auf: „Mylady...", „Vielen Dank, Sir.", sagte sie im Hinausgehen und betrat den Anbau, wo sie Leigh Johnson an der Seite ihres Dienstmädchens antraf. Die beiden hatten sich auf der Holzbank niedergelassen, aber Silence stand auf und kam ihr entgegen. Fromm faltete sie ihre Hände zusammen und fragte besorgt: „Alles in Ordnung?". Anscheinend sah man ihr an, dass sie gerade durch die Hölle gegangen war. Mit Blick auf den Deputy, den sie noch aus ihrer Schulzeit kannte, antwortete sie: „Lass uns gehen.", und steuerte zu ihrem nächsten Ziel, der Gemischtwarenladen.

Annabelle wollte nicht allzu lange in der Stadt bleiben und bald in ihr Anwesen zurückkehren, jedoch machte ihnen jemand einen Strich durch die Rechnung. „Ma'am, können Sie etwas Geld für mich entbehren?", es war ein Bettler, er hockte Straßenrand in einer zerlumpten Uniform, an der Hauswand war eine Krücke angelehnt, die er wohl zum Gehen benötigte, denn als sich Annabelle ihm näherte, bemerkte sie, dass ihm ein Bein fehlte. Vermutlich eine Folge des Kriegs, in dem er gedient hatte, aber es war ungewöhnlich, jemanden mit seiner Geschichte so weit im Westen, abseits der Zivilisation, anzutreffen. Auch Silence kam das spanisch vor und versuchte sie aufzuhalten: „Nicht, Miss Sutton!", aber jene ließ sich nicht drein reden, weil sie Mitleid mit diesem Geschöpf hatte und zu dem Mann sagte: „Sicher, warten Sie...", und kramte in ihrer Handtasche nach ein paar Groschen.

Ganze zwei Dollar konnte sie allein mit Kleingeld zusammenkratzen, die sie in seinen Blechbecher warf. Sein wettergegerbtes Gesicht strahlte schier vor Freude, dankbar schaute er zu ihr auf und sprach: „Gott erbarme Sie, Ma'am! Nicht viele haben Verständnis dafür, weil ich freiwillig in die Armee getreten bin... aber Sie haben ein Herz!", „Nicht, Sir.", entgegnete Annabelle geschmeichelt, „Es ist selbstverständlich, dass ich Ihnen etwas gebe. Hoffentlich reicht es für eine Mahlzeit im Saloon.", „Sicher! Darf ich denn Ihren Namen erfahren, Miss?", „Annabelle Sutton.", antwortete sie ihm ohne Scheu, bevor jegliche Freude seinem Gesicht entschwand und er sie mit seinem Blick hätte töten wollen.

Ehe sich die beiden Frauen versahen, griff der Veteran nach seinem Becher und schüttete den Inhalt vor ihre Füße: „Scherr dich zum Teufel, Kind! Auf deine Almosen kann ich verzichten!". Annabelle war überfordert, sie hatte nicht damit gerechnet, zurückgewiesen zu werden - und das wegen ihres Namens. In ihrer Not ging sie in die Knie und wollte das Kleingeld aufsammeln: „Tut mir leid, ich...", „Was tut dir schon leid, hm? Schau dich an! Dir fehlt es an nichts!". Der Veteran hievte sich mit Hilfe seiner Krücke vom Boden hoch und schaute auf die Tochter des Bankenchefs hinab, bevor er mit seiner rauchigen Stimme erklärte: „Spar dir das, Kleine. Das Geld nimmt dir keiner. An dem klebt das Blut der Verbrechen, die dein Vater begangen hat.", und lahmte die Straße entlang, um in den Saloon einzukehren.

Nachdenklich schaute sie auf die silbernen Münzstücke in ihren Händen, während Silence hinter sie trat und ihr beim Aufstehen half: „Hören Sie nicht auf ihn, Miss. Der kann nicht mehr klar denken, er hat seinen Kopf im Krieg gelassen.", nur war Annabelle der Ansicht, dass dieser Bettler klarer denn je dachte. Sie musste sich beim Anblick des Geldes die Tränen zurückhalten und fühlte sich für etwas schuldig, obwohl sie nicht einmal wusste, für was. Das Dienstmädchen war so freundlich und nahm ihr die Groschen ab, die sie für Annabelle zurück in die Handtasche warf und vorschlug: „Miss, warum warten Sie nicht hier, während ich einkaufe?", womit sie sich einverstanden sah. Bevor Silence zum Gemischtwarenladen hinüberschwenkte, reichte sie ihr noch die Einkaufsliste und meinte: „Sei so lieb und kauf auch eine Schachtel Premiumzigaretten. Falls etwas übrig bleibt, kannst du dir was aussuchen. Als Dankeschön.". Mit einem Knicks begab sich Silence auf die andere Straßenseite und verschwand hinter dem himmelblauen Eingang des H.R. Putnan's General Merchandise.

Nur dauerte es nicht lange, bis Annabelle auf ein vertrautes Gesicht stieß, als eine Postkutsche geführt von ihrem Bruder durch die Hauptstraße von Armadillo zog. Zu ihrer Verwunderung saß an seiner Seite Alastor Payne, der sie bereits aus der Weite gesehen hatte. Thomas brachte mit einem kontrollierten Zug an den Zügeln die Shire-Horses zum Stehen und ließ Mr. Payne von der Postkutsche steigen. Beim Abstieg nahm er bereits seinen eleganten Stadt-Hut ab, obwohl er bereits die Ärmel hochgekrempelt und den ersten Knopf am Kragen seines weißen Hemdes offen gelassen hatte, schwitzte er wie ein Schwein. Als Annabelle bemerkte wie der Vertreter der Eisenbahngesellschaft in ihre Richtung marschierte, versteifte sich ihr gesamter Körper. Er war wirklich ein ansehnlicher Mann mit zurückgekämmten, braunen Haaren und einem höflichen Lächeln auf den schmalen Lippen, nur die Tatsache, dass er zu diesen schmierigen Lappen zählte, die mit ihrem Vater verkehrten, machte ihn so unglaublich unattraktiv, dass sie im Moment am liebsten im Boden versunken wäre. Mit seinen sturmgrauen Augen blickte er auf die Tochter des Bankinhabers hinab und räusperte sich, bevor er ansetzte: „Miss Sutton, schön Sie hier in der Stadt anzutreffen. Haben Sie Ihren Vater bei der Arbeit besucht?".

Annabelle fühlte sich unfähig, ein Wort mit diesem Mann zu wechseln, und schaute an ihm vorbei, wie ihr Bruder ihr einen vielsagenden Blick zuwarf und daraufhin die Kutsche in Richtung der Postmeisterei trieb. Jeder wusste, dass dieser Herr ein Interesse an der ältesten Tochter von Albert Sutton hegte, aber niemanden war bewusst, was das für ein Unbehagen in jener auslöste. Noch nie hatte ihr jemand den Hof gemacht, auch weil ihr Vater jeglichen Kontakt zu Männern außerhalb ihrer Familie regelrecht verboten hatte, und ihr deswegen die Erfahrung fehlte. Um nicht unhöflich zu wirken, entgegnete sie Mr. Payne: „Wir haben uns etwas Geld geholt. Für den Einkauf.", das Sutton-Mädchen faltete aufgeregt ihre Hände zusammen, während Alastor das mit einem Nicken zur Kenntnis nahm. Sie wollte ihm keine falschen Hoffnungen machen, weswegen sie eigentlich versuchte, ihm aus dem Weg zu gehen, was in einer Kleinstadt wie Armadillo schier unmöglich war.

Alastor wischte sich mit einem Taschentuch über die von Schweißperlen benetzte Stirn und keuchte: „Ich komme gerade aus Blackwater, Ihr Bruder hat ein nettes Ehepaar dorthin befördert.", „Blackwater?", „Waren Sie schon einmal dort?", „Nein, leider nicht. Um ehrlich zu sein, habe ich noch nicht viel von der Welt gesehen.", „Nun, bei meinem nächsten Besuch in Blackwater kann ich Sie gerne einmal mitnehmen - nur, wenn es auch Ihr Vater erlaubt, wie sich versteht.", und er bemerkte wohl selbst, dass sein Vorschlag eine reine Unmöglichkeit darstellte, denn Mr. Sutton würde das niemals zulassen. Trotzdem erwiderte sie kurz angebunden: „Es wäre mir eine Freude.".

Ihre Unterhaltung mit Mr. Payne brachte Annabelle auf ganz andere Gedanken und die unerfreuliche Begegnung mit dem Veteran rutschte in ihren Hinterkopf. Nicht viel später tauchte Silence vor ihnen auf, woraufhin Alastor erklärte: „Dann möchte ich Sie nicht länger aufhalten.", er setzte seinen Hut auf und zückte ihn zur Verabschiedung vor den beiden Frauen. Galant bewegte er sich in Richtung des Bankgebäudes. Noch immer etwas überrumpelt von all diesen Ereignissen fand Annabelle wieder an Haltung und wandte sich dem Dienstmädchen zu: „Hast du alles von der Liste?", „Ja, und noch viel mehr.", und überreichte ihr die Packung Premiumzigaretten, nach der sie gefragt hatte und zusammen mit anderen Lebensmitteln in die Tasche warf.

Nach dem Einkauf kehrten beide mit gefüllten Stofftaschen zurück auf die Hauptstraße und machten sich auf den Heimweg. Silence war erleichtert über die Hilfe beim Tragen der Unmengen an Lebensmitteln, die größtenteils aus Dosenobst, -gemüse und -fleisch bestand. Hier unten in New Austin war es schwierig, frische Lebensmittel wie Fleisch aufzubewahren, außer man hielt sich eigene Rinder zur Schlachtung. Anderes Fleisch wie bei einem Schlächter würde der Gefahr auslaufen, in diesen hohen Temperaturen auf kürzeste Zeit zu verderben. Da griff man doch lieber zu den alten Dosen aus dem Regal, um solche Gefahren zu vermeiden.

Auf der staubigen Straße mussten sie erneut an dem Arbeitsplatz ihres Vaters vorbeigehen, in das auch Mr. Payne eingekehrt war. So sehr sie diese Institution und all ihre Vorgänge zutiefst verachtete, glaubte sie mittlerweile, sich in Alastor Payne getäuscht zu haben. Vielleicht war er gar kein übler Kerl. Vielleicht hatte sie ihn grundlos beschuldigte mit den Vorurteilen, die sie gegen die Bank und all seine Mitarbeitenden und Kollaborateuren hatte. Sie hätte ihm von Beginn an unvoreingenommen gegenübertreten sollen. Alastor hatte eine Chance verdient, denn es gab nicht viele Männer, die Mr. Sutton an der Seite seiner Tochter sehen wollte; nur eine von Hand erlesene Auswahl an Herrschaften, die den Anforderungen ihres Vaters entsprachen. Genau das machte es auch so schwierig für Annabelle. Wer blieb da von den Männern in Armadillo noch übrig?

She gave you all she had. // Red Dead Redemption 2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt