Teil 1 ~Jetzt ~

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~ Jetzt ~

„Joel. Mach die Augen auf. Joel, bitte. Wach auf! Joel, mach die Augen auf. Bitte. Ich weiß nicht, was ich ohne dich machen soll. Du kannst mich nicht alleine lassen. Bitte, Joel. Joel?"

Ihre eigene, verzweifelte Stimme hallte in ihren Gedanken wider und ließ Addison aus ihrem leichten Schlaf hochschrecken. Einen Moment lang blickte sie sich verwirrt um, glaubte, im Schlaf gesprochen zu haben, doch sie merkte ziemlich schnell, dass es einfach nur eine nicht allzu ferne Erinnerung gewesen war. Eine Erinnerung, von der sie dankbar gewesen wäre, sie nicht zu haben.
Addison, die auf den Boden neben einem schmalen Bett saß, den Rücken gegen den Rahmen gelehnt, sah hinter sich und für einen Augenblick stockte ihr der Atem, als sie den Mann dort liegen sah, um den sie bereits seit zwei Tagen bangte. Atmete er noch? Panik stieg in ihr hoch, während sie sich aufrappelte und auf seine Brust starrte, die sich nicht mehr bewegte.
„Nein, bitte nicht."
Die Worte, die ihr entfuhren, waren ein leises Wimmern.
„Joel."
Addison legte eine Hand auf seine Wange - warm. Sie fühlte seine Stirn, auf der kleine Schweißperlen standen - viel zu warm. Sie legte behutsam zwei Finger an seinen Hals. Dort, wo der Puls zu fühlen war. Zu fühlen sein sollte. Sie drückte die Finger etwas fester an die Seite seines Halses und schloss die Augen, nur um sie im gleichen Moment wieder zu öffnen, als sie einen ganz schwachen Puls spürte. Eine Woge vollkommen überwältigende Erleichterung wusch über sie hinweg und sie lehnte ihre Stirn für einen Moment gegen seine Schulter, bis sie schließlich die Decke zurückschlug und das Shirt anhob, unter dem ein dicker Verband zum Vorschein kam, der an Joels rechtem Unterbauch befestigt war. Erleichtert stellte Addison fest, dass kein Blut zu sehen war. Die Blutung hatte aufgehört. Endlich. Dennoch machte sie sich daran, den Verband vorsichtig zu lösen, um ihn zu wechseln.

Verbandsmaterial hatte sie vor zwei Tagen glücklicherweise reichlich in einer verlassenen Tierarztpraxis gefunden, inklusive sterilem Nahtmaterial, mit dem sie die tiefe Wunde so gut es ging zusammengenäht hatte.

Was sie nun sah, nachdem sie den Verband entfernt hatte, zerstreute ihre zuvor empfundene Erleichterung sofort. Die Wunde blutete zwar nicht mehr, jedoch hatte der Wundrand eine hässliche, rote Färbung angenommen und die Wunde nässte.
„Scheiße", entfuhr es Addison leise und sie warf einen Blick zu Joel, der weiterhin schlief.
Wie automatisch erledigte sie die Handgriffe, die sie in den letzten zwei Tagen dreimal täglich ausgeführt hatte: Wunde mit einer sterilen Wundauflage abtupfen, Wunde desinfizieren, Wundsalbe mit Antibiotikum auftragen, einige sterile Wundauflagen auf die Wunde legen, mit Heftpflaster fixieren.

Während der ganzen Prozedur ging Addison so vorsichtig wie nur möglich vor. Dennoch entwich Joel ein leises Stöhnen und sein Gesicht verzog sich kurz, ohne dass er aufwachte. Kurz darauf fing er leicht an zu zittern. Schnell deckte Addison ihn wieder zu und verließ den Raum, um das gebrauchte Verbandsmaterial zu entsorgen.
Als sie zurückkam, mit einer Pillendose und einer kleinen Flasche Wasser in der Hand, zitterte Joel noch immer, obwohl sein Gesicht schweißnass war.

Kurz betrachtete Addison die orange Pillendose in ihrer Hand. Antibiotikum. Sie gab es ihm nun schon seit fast zwei Tagen und trotzdem hatte sich keine Besserung eingestellt. War es vielleicht das falsche Mittel? Hatte es keine Wirkung mehr? War es nur für Tiere geeignet? War die Dosierung zu gering? Wie lange dauerte es, bis es wirkte? Fragen, die sie sich bereits hunderte Male gestellt hatte. Dass es sich um ein Antibiotikum handelte, war sicher, denn es stand auf dem Etikett der Dose: „Breitband-Antibiotikum". Auch ohne großes medizinisches Wissen war Addison klar, dass das gut war. Es bedeutete, dass das Mittel eine Vielzahl von Bakterien abtötete. Ihre einzige richtige Sorge war, dass die Wirkung des Mittels nachgelassen hatte, auch wenn das Haltbarkeitsdatum erst vor 4 Monaten abgelaufen war. Die Dosierung hatte sie geschätzt, denn in der Tierarztpraxis hatte sie lediglich ein Buch gefunden, in dem die Dosierungen bei Hunden, Katzen und anderen Kleintieren nach Gewicht aufgelistet waren. Eigentlich sollte es schon längst geholfen haben. Oder? Mehr als einmal hatte Addison verzweifelt versucht sich daran zu erinnern, wie lange es bei ihr gedauert hatte, bis die Wirkung eingesetzt hatte, wenn sie in der Vergangenheit ein Antibiotikum hatte nehmen müssen, aber da war nichts. Nichts außer ihrer Sorge um Joel.

Sie hockte sich neben das Bett, schraubte die Wasserflasche auf, die sie auf den Boden stellte, und schüttelte zwei Tabletten aus der Pillendose. Anschließend schob sie ihre Hand sachte unter Joels Kopf.
„Joel?" fragte sie leise.

Nichts.

„Joel, du musst deine Medizin nehmen."
Langsam drehte er seinen Kopf zu ihr und blinzelte sie durch leicht geöffnete Augen an.

„Geh."

The two of usWo Geschichten leben. Entdecke jetzt