Ihr kennt das, oder? Da muss man wirklich, wirklich dringend auf die Toilette, sprintet mit zusammengekniffenen Pobacken die letzten Schritte in Richtung Klo, reißt sich fast panisch Schlafanzughose und Slip runter, hechtet auf die Klobrille und ... sitzt dann erstmal rum. Der unmenschliche Druck, das Grummeln im Darm. Alles auf einen Schlag weg. Wozu also die Hektik? Das liegt am Adrenalin, sagt mein Dad. Eine ganz typische Panik-Reaktion. Sein Vortrag geht eigentlich noch viel länger. Kann ich euch vielleicht später mal erklären. Wenn ich das hier hinter mir habe. Ich schließe die Augen. Atme ein paar Mal tief ein und aus. Versuche mich zu entspannen. Und merke schnell, dass das klappt. Die Sperre am Po wird lockerer. Ich atme ein letztes Mal ein und drücke ein kleines Bisschen. Und schon schafft es die weiche Kackawurst, die mich so genervt hat, aus mir raus. Es kommt richtig viel. Irgendwann dann auch Pipi. Ich rechne jeden Augenblick mit dem typischen "Platsch", wenn die Matsche ins Wasser in der Kloschüssel platscht. Und mit dem lustigen Gefühl, wenn ein paar Tropfen nach oben spritzen und mich am Popo kitzeln. Ein Augenblick vergeht. Dann der nächste. Kein Platsch. Keine Wassertropfen. Und warum habe ich eigentlich die Augen geschlossen? Irgend etwas stimmt hier nicht.
Hektisch greife ich in Richtung Popo und muss dabei eigentlich an der Klobrille vorbei. Aber da ist kein hartes Plastik. Das ist nur warmer Frottee-Stoff. Und etwas anderes. Langsam spüre ich die Panik in mir hochsteigen. Ich strample mit den Beinen und höre das Knistern, das mich mit einem Schlag in die Realität holt. Ich reiße die Augen auf und weiß jetzt sofort, wo ich bin. In meinem Bett. Wo sollte ich um 2.30 Uhr in der Nacht auch sonst sein? Der Sprint auf die Toilette war nur ein Traum. Normalerweise ein Grund, sich wieder zu entspannen. Dafür gibt es aber überhaupt keinen Grund. Weil nur der Weg zur Toilette ein Traum war - und nicht das, was ich dort aus mir herausgedrückt habe. Ich wusste, was das bedeutete. Wusste, dass der Gestank sich in den nächsten Minuten zu mir durchgearbeitet haben würde. Trotz dicker Bettdecke. Und trotz der Windel.
Die war jetzt richtig voll. Mal wieder. Das ging jetzt seit beinahe zwei Jahren so. Irgendwann nach den Osterferien in der zweiten Klasse hatte ich das erste Mal eine volle Ladung in der Hose. Am Anfang vielleicht nur einmal pro Woche. Dann wurde es irgendwann so schlimm, dass Dad und ich entschieden haben, dass es ohne Windel nicht mehr ging. Natürlich hatte ich mich lange dagegen gewehrt. Eine Windel. Mit 8 Jahren. Das war eine absolute Katastrophe. Aber egal wie rebellisch du bist - irgendwann siehst du es ein. Weil es wirklich kaum etwas ekligeres gibt, als ein vollgekackertes Bett. Und weil du irgendwann alles ausprobiert hast, was Therapeuten, Psychologen und Ärzten so auf Lager haben. Besonders albern war die Klingelhose. Die weckt dich, wenn's die Unterhose nass wird. Nette Idee. Aber das Pipi kommt immer erst kurz nach dem Kacka. Zumindest bei mir. Deshalb hatten sie mir bei der gefühlt 99. Untersuchung im Schlaflabor irgendwann eine Windel angezogen. Und dabei waren wir dann auch geblieben. Bis heute.
Zu Anfang war jede volle Windel ein echtes Drama. Einer der Psychologen hatte uns empfohlen, jede Windel zu protokollieren. Das hatten wir eine Weile gemacht. Und dann aber auch schnell abgehakt. Weil sich an meinem Problem überhaupt nichts änderte. Nach zwei, drei sauberen Nächten kamen zuverlässig volle Windeln. Mal mehr, mal weniger. Ein Rhythmus war nicht erkennbar. Inzwischen kam ich damit aber soweit klar. Weil ich wusste, dass der Aufwand am nächsten Morgen für Dad überschaubar war.
Deutlich schwieriger war der Kampf mit der Krankenkasse gewesen. Die hatte zwar kein Problem mit einem Rezept für meine Windeln gehabt - wohl aber damit, dass ich unbedingt richtige Klebewindeln brauchte. Die Pull-ups, die wir zum Testen bekommen hatten, waren zwar praktisch, wenn man ein Pipi-Problem hatte - aber komplett nutzlos, wenn das große Geschäft sicher in der Windel bleiben sollte. Sie hatte es lange nicht eingesehen. Mussten sich nach zwei eindeutigen Gutachten aber doch irgendwann geschlagen geben. Seitdem bekam ich alle vier Wochen ein großes Paket mit Windeln geliefert. Die reichten theoretisch für fünf Wochen. Weil ich die Windeln ja wirklich nur nachts brauchte. Aber Dad fand es ganz gut, immer einen kleinen Puffer im Haus zu haben. Und manchmal waren es auch zwei Windeln pro Nacht. Eigentlich nur am Wochenende. Da hatte ich manchmal bis zum Mittagessen eine Windel an. Eine echt blöde Angewohnheit. Aber ich hatte einen Deal mit Dad: Wenn ich die Schule im Griff hatte und meine Aufgaben alle während der Woche erledigt hatte, durfte ich am Samstagvormittag zocken. Bis Mittag. Und irgendwann hatte ich, nach einer Nacht ohne volle Windel, das Ding einfach angelassen und später beim Zocken reingemacht. Mit Absicht. Erst hatte ich mich dafür furchtbar geschämt. Dann aber gemerkt, dass das eigentlich ganz praktisch war. Dad hatte natürlich versucht, mich davon wegzukriegen. Ich fand's ja selbst bescheuert. Weil ich aber ansonsten echt diszipliniert war, hatten wir einen Deal gemacht: Die Windel am Samstag war bis zum Jahresende okay. Aber nur, wenn Schule und alles drumherum weiter so gut funktionierte. Und das tat es.
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Alles (nicht) nur geträumt
General FictionNoah ist fast 10. Gut in der Schule, fleißig und eigentlich ziemlich beliebt. Er lebt mit seinem Dad in einem beschaulichen Reihenhäuschen. Ein Leben wie aus dem Bilderbuch. Aber Noah hat ein Problem. Er würde so gerne mal bei seinen Kumpels übernac...