Als die Bimmelbahn endlich mit erbärmlich quietschenden Bremsen am Zielbahnhof ankam, hatten wir tatsächlich fast 75 Minuten Verspätung eingesammelt. Die Zeit bis zur Abfahrt unseres Nachtzuges hatten wir eigentlich in einer komfortablen Bahn-Lounge verbringen wollen. Das fiel jetzt flach. Statt dessen konnten wir direkt in den Nachtzug umsteigen, der gerade am Bahnsteig gegenüber bereitgestellt wurde. Auch nicht schlecht.
Vor allem, weil das Ding im Vergleich zur rumpeligen Regionalbahn der absolute Vollkracher war. Top-Modern. Angenehm klimatisiert. Und bei der Abfahrt auf die Sekunde pünktlich. Dad hatte sogar ein Upgrade in die erste Klasse erwischt, wir hatten in unserem Schlaf-Abteil also nicht nur zwei bequeme Betten, sondern auch ein eigenes Badezimmer mit Dusche. Zwar sehr winzig. Aber trotzdem der absolute Luxus.
Während ich mein Bett mit Kuscheltier und ein bisschen Lesestoff gemütlich einrichtete, verstaute Dad unsere Taschen und zog zwei der insgesamt vier Sitzplätze zu einer ebenen Liegefläche zusammen. Theoretisch wurde der Bereich unter den Betten damit zu einer Art Lounge - in unserem Fall hatte der Umbau das Ziel, eine Wickelmöglichkeit zu schaffen. Da kam ich aber erst drauf, als Dad die Liegefläche mit einer Wickelunterlage abgedeckt hatte und die restlichen Sachen für den Windelwechsel bereitgelegt hatte. Manchmal überraschte es mich selbst, wie gut ich darin war, so eine Kleinigkeit wie eine volle Windel zu verdrängen.
Ich schälte mich aus dem Overall, der im perfekt klimatisierten Schlafwagen eh zu warm war und ließ mich wenige Sekunden später auf die Wickelunterlage fallen. Das Knistern der flüssigkeitsabweisenden Schutzfolie unter mir hatte sich für mich noch nie so laut angefühlt. Ich war zu 100% davon überzeugt, dass der gesamte Zug mitbekommen musste, dass hier gerade ein Grundschüler gewickelt wurde. Das war natürlich Quatsch. Ich schloss trotzdem die Augen - als ob das irgend etwas daran ändern konnte.. Immerhin: weder mein Body, noch die Strumpfhose hatten etwas abbekommen. Trotzdem brauchte Dad ein paar Minuten, bis er wirklich den letzten Rest Kacka mit einem der weichen Feuchttücher beseitigt hatte. Die frische Luft und das Gefühl der Sauberkeit taten gut. Und als Dad dann noch mit seinen warmen Händen eine Schicht der nach Lavendel duftenden Pflegecreme verteilte, war meine Welt trotz anschließend folgendem Windelpaket fast wieder in Ordnung.
So richtig viel Zeit, unser Luxus-Abteil zu genießen, hatten wir allerdings nicht. Dad hatte einen Tisch im Speisewagen reserviert. Und weil der gesamte Zug ausgebucht war, taten wir gut daran, pünktlich zu sein. Dad's Hinweis aufs Abendessen sorgte dafür, dass ich praktisch im selben Augenblick Hunger bekam. Verrückt. Aber vielleicht auch ganz verständlich. Die Reise war bislang einfach so spannend, dass ich schlicht vergessen hatte, dass ich seit der Abfahrt heute Mittag nichts mehr gegessen hatte.
Also: Abmarsch zum Speisewagen? Von wegen. Ich hatte ja zu diesem Zeitpunkt nur den grauen Body und die hellgrüne Strumpfhose an. Ich war, was Klamotten anging, da prinzipiell unempfindlich. Aber so wollte ich doch eher nicht durch den vollbesetzten Zug laufen. Weniger wegen Strumpfhose und Body - sondern vor allem wegen der dicken Windel drunter. Dad und ich fanden aber schnell eine pragmatische Lösung. Für den Softshell-Overall war's zu warm. Und auch die beiden Hosen, die ich eingepackt hatte, waren in Verbindung mit der Strumpfhose hier drin einfach zu viel. Also zog Dad einen dunkelblauen Sternchen-Hoodie aus meiner Tasche. Der war mir noch eine halbe Nummer zu groß und damit lang genug, um den Windelpo zu verstecken. Ich schlüpfte schnell in meine Drachen-Boots und betrachtete mich kurz im Spiegel - und fand's okay. Dass ich durch die Windel immer ein bisschen watschelte, fiel im Zug übrigens auch niemand auf. Weil durch die Vibrationen und Kurven hier eh alle ziemlich durch die Gegend eierten.
Auch wenn ich es mir beim besten Willen nicht erklären konnte, wie man in so einer winzigen Küche kochen konnte, war das Essen im Speisewagen klasse! Ich verdrückte eine Riesen-Portion Bratkartoffeln und zwei Spiegeleier, Dad hatte sich für einen großen Salat mit Thunfisch entschieden. Es schmeckte alles prima. Zwei Apfelschorle und ein gemischtes Eis später war ich pappsatt. Und reif fürs Bett.
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Alles (nicht) nur geträumt
Fiction généraleNoah ist fast 10. Gut in der Schule, fleißig und eigentlich ziemlich beliebt. Er lebt mit seinem Dad in einem beschaulichen Reihenhäuschen. Ein Leben wie aus dem Bilderbuch. Aber Noah hat ein Problem. Er würde so gerne mal bei seinen Kumpels übernac...